Frankfurt/Main (MH) – András Schiff zeigt sein spitzbübisches Lächeln, als er sagt: "Über Musik zu reden, ist völlig überflüssig". Dann beginnt der ungarische Pianist, mehr als eine geschlagene Stunde über jede einzelne der 30 Variationen von Johann Sebastian Bachs Mammutwerk zu referieren: Die Goldberg-Variationen. Aus gutem Grund. Das "Alte Testament" für Pianisten steht mit über 35 Konzerten im Mittelpunkt des Musikfestes der Alten Oper Frankfurt, das am Sonntag eröffnet wurde.
Schiffs anekdotenreicher Vortrag gerät umso kurzweiliger, weil er mit humorvollen Petitessen aus der Musikgeschichte aufwartet. So bekennt er, die fünfte Variation erinnere ihn an den großen Scarlatti, der das Überkreuzen der Hände erfunden habe. In seinen späteren Jahren habe Scarlatti sich allerdings in Spanien wegen des guten Essens eine mächtige Wampe angefressen, und deshalb fänden sich ab diesem Zeitpunkt in seinen Werken keine Handkreuzungen mehr. Dank Scarlattis Erfindung sei er, Schiff, überhaupt in der Lage, die Variationen, die der Leipziger Thomaskantor für ein zweimanualiges Cembalo geschrieben hat, auf einem Konzertflügel zu spielen. Dabei komme es trotzdem immer wieder zu "Karambolagen und Verkehrsproblemen", besonders, wenn man – wie er – auch noch Manschettenknöpfe trage.
Nicht ein Hauch derartiger Probleme ist anschließend in dem 75-minütigen Konzert zu hören. Schiff interpretiert das heilige Werk mit einer unvergleichlich tiefen Schlichtheit, einer kantablen Innigkeit und einer geradezu wahnwitzigen Spielfreude, gerade bei den Handkreuzungen, Manschettenknöpfe hin oder her. Und aus dem "schwarzen Sarg", wie er den Steinway-Flügel lapidar nennt, wird an diesem Morgen ein schwarzer Schmuckkasten, der 30 kostbar schimmernde Kleinode birgt.
Schon während seiner lehrreichen Stunde überträgt sich die Begeisterung, die der Bach-Papst für die Goldberg-Variationen empfindet, auf den Saal. Zwei Einspielungen hat er vorgelegt, nun hoffe er, den Zyklus live immer wieder aufzuführen "so lange ich lebe". Andächtige Stille legt sich über das Publikum, viele schließen gar die Augen, als er bei der Variation 25 anlangt, von ihm als "Black Perl" angekündigt. Wunderbar klangsinnlich, voll humaner Größe gestaltet er das überirdische Adagio, nur, um sich anschließend übermütig in die folgende Sarabande zu stürzen.
Einen kleinen Seitenhieb auf Glenn Gould, der als Interpretationsantipode auf der intellektuellen Seite der Skala gilt, kann er sich allerdings nicht verkneifen. Schiff spielt jede der einzelnen Wiederholungen aus, worauf Gould in seinen beiden Aufnahmen verzichtete. Sir András zeigt hier klare Kante: "Bach hat alle Wiederholungen vorgeschrieben. Also spielt man entweder keine oder alle". Sagt’s, konzertiert, nimmt die Ovationen entgegen und geht ab.
(Von Bettina Boyens)
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