Hannover (MH) – "Aufgegeben und liegengelassen!" behauptete der Komponist Arnold Schönberg in einem Brief an seinen Schüler Alban Berg über die Gurre-Lieder (1900-1911). Zum Glück hat er es nicht getan: In Hannover sorgte das monumentale Werk am Pfingstsonntag im Kuppelsaal des Hannover Congress Centrums für ein Feuerwerk der Emotionen. Mit frenetischem Jubel und Standing Ovations bedachte das Publikum das Dirigat des Kunstfestspiele-Intendanten Ingo Metzmacher – manch einen rührte Schönbergs wohl romantischstes Stück sogar zu Tränen.
Überwältigend war allerdings nicht nur das positive Feedback auf die dramatische Eifersuchts-Sage des dänischen Königs Waldemar und seiner Geliebten Tove Lille, sondern auch die Besetzung: die NDR Radiophilharmonie sowie das Orchester der Musikhochschule Hannover entführten die Zuhörer im Vorspiel mit filigranem Spiel zunächst in eine märchenhaft-mystische Klangwelt.
Für berührende Gänsehautmomente sorgten im ersten Teil vor allem die Solistinnen Anja Kampe (Sopran) und die für die erkrankte Wiebke Lehmkuhl eingesprungene Okka von der Damerau (Alt): Ihre gefühlvoll-authentische Eindringlichkeit und die fein herausgearbeitete Dynamik des Orchesterspiels verschmolzen zu einer beinahe zärtlichen Symbiose. Als Spiegelbild orchestraler Dynamik fungierten Dirigent und Gesang – Metzmacher und den Solisten gelang die Repräsentation raumgreifender Ergriffenheit durch Diversität in Mimik und Gestik nicht nur auf akustischer, sondern auch auf visueller Ebene.
Unter den räumlichen Gegebenheiten des Kuppelsaals litt die Darbietung von Stephen Gould (Tenor) – das betraf besonders die oberen Ränge. Trotz größter Anstrengung konnte sein Gesang das Publikum weitestgehend nicht erreichen, auch emotional nicht.
Erst im Kontrast aus Schwere und Leichtigkeit manifestieren sich die beschwingte Liebesgeschichte des ersten Teils und die Tragik – die Königin Helvig hat die Mätresse ihres Mannes ermorden lassen – der folgenden Teile. Sukzessive nehmen die musikalischen Referenzen auf den zuvor grazil gezeichneten Charakter Toves in den dramatisch anklagenden Stücken ab, stattdessen präsentiert sie sich in rasselnden Ketten.
Mit einer beeindruckenden dynamischen Bandbreite evozierten die neun hannöverschen Chöre eine unheilvolle Atmosphäre – fast scheint es, als seien die Choristen zu Toves Beerdigung gekommen. Wie ein gespenstisches schlechtes Gewissen verfolgt die scharfe Artikulation des Sprechers (Thomas Quasthoff) den Zuhörer.
Erst das fulminante Finale "Seht die Sonne" vermag das Publikum aus der beklemmenden Stimmung zu befreien: Hier hat das Stück nicht nur seinen dynamischen Höhepunkt erreicht, so dass der Saal im wahrsten Sinne des Wortes bebt, sondern auch seinen emotionalen.
(Von Anne Reck)
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(15.05.2016 – 09:00 Uhr)
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