Dresden/Wien – Die Tickets sind heiß begehrt wie Schwanenritter Lohengrin im Land von König Heinrich. Wenn die russische Sopranistin Anna Netrebko am (heutigen) Donnerstag an der Semperoper ihr Debüt als Elsa in Richard Wagners Oper "Lohengrin" gibt, befindet sich Dresden für knapp vier Stunden im Rampenlicht der Opernwelt. Zumal auch Tenor Piotr Beczala mit seinem ersten Lohengrin ins Wagner-Fach einsteigt. Der Run auf die Karten war riesig, alle vier Repertoirevorstellungen sind seit langem ausverkauft. Aus vielen Ländern trafen Anfragen nach Tickets ein, wegen Beczala wollten auch eine Menge Fans aus Polen kommen.
Der Weg Netrebkos von Mozart-Partien über die Leonora in Verdis "Troubadour" bis hin zur Elsa wirkt im Rückblick folgerichtig. "Anna Netrebko ist ein Paradebeispiel für eine behutsame, kontinuierliche Entwicklung von einer lyrischen zur lyrisch-dramatischen Stimme", sagt der Dresdner Stimmforscher Dirk Mürbe. Der Professor macht die Reifung der Sängerin an ihren Rollen fest und hat auch selbst erlebt, wie Netrebko beim Debüt als Leonora 2013 in Berlin an der Seite von Plácido Domingo den nächsten Schritt hoch zum Wagner-Olymp unternahm. Das Publikum sei wie elektrisiert gewesen.
Sängerinnen wie die finnische Weltklasse-Sopranistin Camilla Nylund haben es Netrebko vorgemacht. Nylund, die seit 2014 an der Wiener Staatsoper die Elsa singt, begann mit Partien wie der Agathe im "Freischütz" und ist international spätestens seit ihrem Debüt als Elisabeth in Wagners "Tannhäuser" auf den bekanntesten Bühnen der Welt zu Hause: "Ich hatte eigentlich immer Glück, dass Rollenangebote im richtigen Moment kamen. Ich konnte damals gleich nach dem Studium am Opernhaus Hannover mit eher lyrischen Partien anfangen, lyrisch-dramatische kamen nach und nach dazu."
"Nicht forcieren", lautet ein Motto von Nylund: "Immer auf sich hören", ein anderes. Für sie besteht das Geheimnis im Wechsel. Immer mal wieder lyrisch singen, in Oper, Konzert oder beim Lied. Die Gestaltung einer Partie gewinne mit jeder Vorstellung, sagt die Finnin: "Die Salome singe ich jetzt regelmäßig seit 2004. Es macht mir jedes Mal Spaß, dieses Mädchen zu gestalten und singen. Ich brauche heute nicht nervös zu sein, ob ich den ganzen Abend durchstehe. 2004 war es schon eher ein Kraftakt. Heute genieße ich jeden Ton!". Bühnenpräsenz sei dabei die halbe Miete.
Dirk Mürbe vergleicht die Belastung einer dramatischen Partie mit Hochleistungssport. Nicht jeder gute 3000-Meter-Läufer könne am Ende Olympiasieger werden, sagt der Mediziner, der auch Gesang studierte. Bei Partien wie Wagners Isolde könne man Sängerinnen auf Top-Niveau an einer Hand abzählen. "Da gibt es konstitutionelle Grenzen. Wenn man als Soubrette startet, kann man kein dramatischer Sopran werden." Er räumt aber ein, dass sich Gesangslehrer in ihren Prognosen auch immer mal wieder irren. Wer eine besondere Ausstrahlung besitze, könne manchmal begrenzte stimmliche Möglichkeiten kompensieren.
Mürbe erinnert sich an einen Auftritt der Britin Gwyneth Jones, als sie ihren stimmlichen Zenit bereits überschritten hatte und die Ortrud im "Lohengrin" verkörperte. Obwohl sie in dieser Rolle im ersten Akt kaum etwas zu singen hatte, sei sie die eigentliche Chefin auf der Bühne gewesen: "Alles andere außer Jones wurde irgendwie zur Nebensache." Bei der stimmlichen Entwicklung spiele nicht zuletzt die Persönlichkeit eine große Rolle: Reife, Erfahrung, Bühnenpräsenz. Das alles sei neben stimmphysiologischen Voraussetzungen entscheidend für das dramatische Fach.
Sängerinnen wie Nylund, Netrebko, Angela Denoke oder die Schwedin Nina Stemme bringen all diese Vorzüge mit. Ihre Stimmen sind im Lauf der Jahre wie bei einem guten Wein voller und abgerundeter geworden. Da man den Begriff Alterung hier vermeidet, sprechen die Fachleute von einer "Lebenszeitperspektive der Stimme". Physiologisch heißt dass nichts anderes, als dass sich Elastizität und Spannungsbalance der Stimmbänder im Laufe der Jahre verändern. Manchmal beginne schon bei einer Schwangerschaft eine stimmliche Veränderung, da in dieser Phase viel Flüssigkeit in das Gewebe eingelagert wird, sagt Mürbe.
Aus der Elsa einen starken Charakter formen
"Netrebko ist ein typisches Beispiel, wie sich eine Stimme sowohl im Timbre, aber auch in anderen Merkmalen wie Durchschlagskraft und Trägfähigkeit verändert hat", sagt der Forscher. Gerade dramatische Partien würden eine riesige Bandbreite erfordern: "Für die Elsa ist das ganz charakteristisch. Sie muss das Pianissimo beherrschen, über eine satte Mittellage verfügen, und dann im dritten Akt voll auf die Tube drücken können." Der Wissenschaftler sieht Netrebko reif für diese Partie: "Ihre Stimme hat in den letzten Jahren noch ein Klangregister hinzubekommen, hat sich in der Tiefe geöffnet."
Unabhängig von den stimmlichen Qualitäten ist auf diesem Niveau aber auch psychische Stärke gefragt. Stars wie Netrebko werden auf Schritt und Tritt von der Öffentlichkeit begleitet. Wer diese Höhe erreicht hat, kann sich keinen stimmlichen Ausrutscher leisten. Sofort würde das bei YouTube oder anderswo im Netz auftauchen. "Um solch einem Druck standzuhalten, muss man sein Handwerkszeug hundertprozentig beherrschen", betont Mürbe. Netrebko sei da aber sehr professionell. "Sie ist in ihrer Karriere nicht hochgeschossen worden. Sie wusste von Anfang an, wie es geht, und kann deshalb den Druck aushalten."
Mürbe glaubt, dass professionelle Begleiter wie Stimmcoaches auf dem Weg zum dramatischen Fach an Bedeutung gewinnen. "Das ist eine Marktlücke. Der Markt bringt zu viele lyrische Sopranistinnen hervor. Alle wollen Pamina singen. Doch wenn man 35 Jahre alt ist, warten schon wieder 100 Paminas, die jünger sind." Da Hochschulen Sängerinnen nicht auf eine Elsa vorbereiten, müsse man seine Entwicklung planen und Rat von Coaches, Pädagogen oder Korrepetitoren einholen. Auch Nylund hat das gemacht: "Letztendlich habe ich aber auf meine Stimme gehört und selbst die Entscheidung getroffen."
In einem Interview des Fachmagazins "Das Opernglas" hatte Netrebko unlängst die deutsche Sprache als besondere Herausforderung bei der Einstudierung ihrer Elsa-Partie bezeichnet. Deshalb habe sie viel mit ihren Coaches daran gearbeitet. "Ich liebe Wagner! Ich mag einfach seine Opern sehr und könnte mir diese Musik stundenlang anhören", sagte die Sängerin. Aus der Elsa wolle sie "einen starken Charakter formen": Es könne aber sein, dass sie die Partie am Ende anders singen werde, als man es vielleicht gewöhnt ist. Auch deshalb wird man am in Dresden die Ohren spitzen.
(Von Jörg Schurig, dpa/MH)
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