Sonntag, 26. Juni 2016 / 23:05 – 01:30 Uhr
ARTE
Musiktheater (Deutschland 2015, Erstausstrahlung) Johan Simons begann seine Intendanz bei der Ruhrtriennale 2015 mit einer eigenen Regiearbeit, einem Musiktheaterprojekt, das von Pier Paolo Pasolinis 1961 entstandenem Leinwanddebüt "Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß" seinen Ausgang nimmt. Pasolinis erster Film thematisiert die prekäre Situation eines an die Randgebiete Roms verdrängten Subproletariats, das fernab von Bildungsmöglichkeiten und sozialen Aufstiegschancen täglich um das eigene Überleben kämpft. Philippe Herreweghe dirigiert dazu Musik von Johann Sebastian Bach an der Spitze des berühmten Collegium Vocale Gent.
Besetzung: Steven Scharf (Accattone), Jeff Wilbusch (Cartagine), Mandela Wee Wee (Pio), Lukas von der Lühe (Renato), Benny Claessens (Das Gesetz), Elsie de Brauw (Amore), Sandra Hüller (Maddalena), Laura Mentink (Ascenza/Nannina), Anna Drexler (Stella), Steven van Watermeulen (Der Dieb/Balilla), Dorothee Mields (Sopran), Alex Potter (Countertenor), Thomas Hobbs (Tenor), Peter Kooij (Bass), Christine Busch (Solo Violine), Pien Westendorp (Das Kind)
Die Geschichte wird erzählt in Form einer Passion: Der Protagonist Accattone trinkt, stiehlt, lügt und zwingt seine Freundin in die Prostitution. Pasolini verortet ihn in einer gesellschaftlichen Realität, die einem Dante’schen Inferno gleicht. Als eine Art Anti-Messias bildet Accattone das Negativ bürgerlicher Wert- und Moralvorstellungen und reflektiert zudem einen wuchernden Kapitalismus, der Identität ausschließlich über Arbeit und Funktion konstituiert und alle dysfunktionalen Elemente der Gesellschaft durch sein Raster fallen lässt.
Mit "Accattone" knüpfte Johan Simons bei der Ruhrtriennale an seine Erfolgsproduktion "Sentimenti" aus dem Jahre 2002 an, die sich bereits mit der Historie des Ruhrgebiets auseinandersetzte und Verbindungen zwischen den Kunstproduktionen und der umgebenden Gesellschaft geschaffen hat. Durch das Zusammenwirken von Schauspiel, Film, Literatur und Chorkonzert sowie durch den Einbruch in Momente der Bildenden Kunst operiert das Projekt an den Grenzlinien bestehender Genres.
Philippe Herreweghe, einer der wichtigsten Bach-Interpreten unserer Zeit, lässt sich nur sehr sporadisch dazu bewegen, Oper und Musiktheater zu dirigieren. Trotzdem zweifelte er keinen Moment lang, als Johan Simons ihn darum bat, mit seinem weltberühmten Collegium Vocale Gent verschiedene Chor- und Orchesterwerke von Bach für "Accattone" zu dirigieren.
Die Kohlenmischanlage der Zeche Lohberg in Dinslaken wurde mit "Accattone" zum ersten Mal als Spielort der Ruhrtriennale in Dienst genommen. Durch die gewaltigen Dimensionen der halboffenen Halle – mit 210 Meter Länge und 65 Meter Breite – erschließt sich eine neue Art von Theaterform, dessen Grenzen kaum festzulegen sind.
(pt/MH)
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