Ruhrtriennale-Intendant Simons: Man kann jetzt kein Festival ohne Politik machen

03. August 2016 - 15:55 Uhr

Gelsenkirchen – Terror-Anschläge, Amok, Brexit, Flüchtlinge, Putsch in der Türkei – die Ruhrtriennale läuft in diesem Sommer in einer aufgeheizten gesellschaftlichen Atmosphäre ab. Intendant Johan Simons will aber "das Nachdenken über unsere Gesellschaft nicht nur den Politikern überlassen". Deshalb wird das experimentelle Theater- und Musikfestival diesmal besonders politisch. Die europäischen Werte kommen auf den Prüfstand. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit müssten neu definiert werden, sagt Simons in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur.

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons

Frage: Ihr Ruhrtriennale-Leitmotiv lautet "Seid umschlungen!". Kann man das in dieser Zeit eigentlich noch sagen?

Antwort: Man muss.

Frage: Wen soll man denn umschlingen?

Antwort: Alle. Ich versuche es jedenfalls. Die Menschen sollten Mut haben und mit Würde handeln. Man hat das Gefühl, dass das Leben risikoreicher geworden ist. Vielleicht müssen wir uns an solche Nachrichten gewöhnen. Aber wir dürfen nicht ängstlich werden oder auf Hass mit Hass antworten. Dann wird es schlimmer und schlimmer. Daraus entstehen dann die populistischen Parteien wie bei uns in den Niederlanden oder in Frankreich.

Frage: Islamistische Anschläge in Frankreich und Bayern, Amoklauf in München, Brexit, Flüchtlinge, Populisten in Europa und den USA – wie kann die Ruhrtriennale auf diese Zeit der Verunsicherung reagieren?

Antwort: Wir können das Nachdenken über unsere Gesellschaft nicht nur den Politikern überlassen. Das meine ich nicht arrogant. Die ganze Welt wird politischer. Ich muss mich jeden Tag und jede Stunde politisch verhalten. Man kann jetzt kein Festival machen, ohne dass man Politik einbezieht. Das geht einfach nicht. Wenn ich zum Beispiel Kamel Daoud nehme …

Frage: Sie meinen das von Ihnen inszenierte Stück "Die Fremden". Es basiert auf dem Roman "Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung" von Kamel Daoud. Der Roman ist eine Antwort auf Albert Camus' Roman "Der Fremde".

Antwort: Bei Camus wird ein Araber ermordet, der keinen Namen hat. Mehr als 70 Jahre später hat Daoud einen Roman aus dem Blickwinkel des Bruders des Ermordeten geschrieben. Der Ermordete bekommt nun einen Namen: Moussa – und durch seinen Bruder eine Stimme und Geschichte.

Frage: Die Politik fordert als Konsequenz auf Terror oft verstärkte Sicherheitsmaßnahmen und mehr Polizei. Was kann die Antwort der Kunst auf Terror sein?

Antwort: Kunst kann in unruhigen Zeiten Mut, alternative Wege und andere Denkweisen und Perspektiven zeigen. Die Kunst kann vieles. Wir können den Menschen zeigen, was unsere Werte sind.

Frage: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – diese europäischen Grundwerte wollen Sie bei der Ruhrtriennale auf den Prüfstand stellen. "Wie frei bist Du?" steht in großen Lettern auch auf der Zeitung der Ruhrtriennale. Ihre Antwort?

Antwort: Ich bin durchaus frei. Nur schleicht sich heutzutage schon eine gewisse Unfreiheit ein, glaube ich. Wenn man die Religion oder die Flüchtlingspolitik kritisiert, wird man gleich in eine Ecke gestellt, in die man überhaupt nicht gehört. Die Kunst aber hat die Fähigkeit zu nuancieren.

Frage: Müssen wir die Begriffe von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit neu definieren?

Antwort: Ja, das müssen wir. Wenn wir uns einig sind, dass Freiheit wichtig ist, dann muss Europa überdenken, was Freiheit heute bedeutet. Wir müssen nicht die Ökonomie, sondern die europäischen Werte in den Mittelpunkt stellen. Wie weit verteidige ich meine Freiheit? Hoffentlich wird diese Frage nie konkret. Solange wir imstande sind, diese drei Begriffe zu leben, so lange ich noch das Gefühl habe, dass ich in Europa sagen kann, was ich möchte, und solange Staat und Religion getrennt sind, bleibe ich ein Europäer. Unsere Werte werde ich eher mit Büchern als mit Waffen verteidigen.

Frage: Sie haben auch in dieser Saison wieder eine riesige, halboffene Kohlenmischhalle einer stillgelegten Zeche als Aufführungsort gewählt – diesmal in Marl. Warum reizen Sie diese wüstenhaften Hallen so sehr?

Antwort: Weil sie eine sehr große Vergangenheit haben. Für mich ist das Ruhrgebiet auch immer verbunden mit der industriellen Revolution, mit sehr harter Arbeit und zwei Weltkriegen. Hierhin sind auch viele Nationalitäten gekommen und haben friedlich miteinander gelebt. Das darf man nicht vergessen.

Frage: Spürt man die frühere Arbeit in den Ruhrtriennale-Hallen noch?

Antwort: Man spürt, zum Beispiel, das noch ein wenig in der Bochumer Jahrhunderthalle. In Marl aber ist es noch sehr stark zu spüren. Wir spielen dort mehr als ein halbes Jahr nach der Schließung der Zeche. Den Kohlenstaub riecht man noch. Das Stück "Die Fremden" spielt in dieser Riesenhalle, in der sich mal eine ganz andere Geschichte abgespielt hat. Und die Atmosphäre, die der leere Raum mit der gigantischen Kohlenmischmaschine jetzt vermittelt, hat etwas mit den Themen von "Die Fremden" zu tun. Es war mir wichtig, genau diese Geschichte dort zu erzählen. Und es ist die erste und letzte Chance für das Publikum, diese Halle so zu erleben. Ich bin seit meinen Anfängen mit meiner Theatergruppe Hollandia fasziniert von solchen Orten.

Frage: Warum haben Sie als Eröffnungspremiere "Alceste" von Christoph Willibald Gluck gewählt – eine Oper, die vor rund 250 Jahren uraufgeführt wurde? Passt "Alceste" – eine Königin opfert sich für ihren todkranken Mann – zu den Fragen, die Sie heute stellen?

Antwort: Ja, es passt für mich zum Zweifel. Der Zweifel ist ein hohes Gut in unserer Gesellschaft. Demgegenüber schließt Fanatismus jeglicher Art den Zweifel aus. Ich finde es schwierig, in einer Gesellschaft zu leben, in der der Zweifel nicht mehr existiert.

Frage: Sie sind streng calvinistisch erzogen und irgendwann vom Glauben abgefallen. Ist der Glaube wiedergekommen?

Antwort: Die Menschen sollen frei sein zu glauben. Ich bin sehr christlich erzogen worden. Aber ich bin mit 13 oder 14 Jahren in Zweifel geraten.

Frage: Am 1. September werden Sie 70 Jahre alt.

Antwort: Eigentlich hasse ich Geburtstage.

Frage: Noch bis 2017 sind Sie Intendant der Ruhrtriennale. 2018 übernehmen Sie das traditionsreiche Schauspielhaus Bochum. Auch für Bochum haben Sie sich schon viel vorgenommen und planen ein länderübergreifendes Theaternetzwerk mit Gent und Rotterdam.

Antwort: Ich brauche das, viel zu tun zu haben und immer wieder neue Herausforderungen.

Frage: Und wie stemmt man das so in Ihrem Alter?

Antwort: Ich möchte mich gar nicht zur Ruhe setzen. Ich kann mich auch als Mensch und als Künstler immer noch einmal weiterentwickeln, weil ich mit großer Geduld und Überlegung und mit viel größerem Wissen als früher inszenieren kann.

Frage: Denken Sie manchmal schon über Bochum hinaus?

Antwort: Danach kann man mich im Himmel finden. (lacht)

Frage: Glauben Sie also doch an Gott?

Antwort: Nein, nein.

(Die Fragen stellte Dorothea Hülsmeier, dpa)

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