Opernthriller vom Feinsten: "Der Sandmann" an der Oper Frankfurt

19. September 2016 - 13:36 Uhr

Frankfurt am Main (MH) – Es war zum Verrücktwerden. Gleich zu Beginn der Premiere an der Oper Frankfurt war der böse Sandmann E.T.A. Hoffmanns in seiner Wirkung schrecklich spürbar. Gleißend hell leuchtete am Sonntagabend der Neonrahmen um die schwarze Bühne, so dass man geblendet die Augen schließen musste. Der Sandmann ist in Scartazzinis gleichnamiger Oper nicht das putzig lächelnde Fernsehmännchen, sondern Hoffmanns berühmter Alptraum-Horror: Die blutig herausgerissenen Augäpfel der Kinder setzt er seinem eulenschnäbligen Nachwuchs als Festmahl vor. Kein Wunder, dass diese Geschichte den jungen Nathanael in Hoffmanns Novelle in den Wahnsinn treibt.

"Der Sandmann"

"Der Sandmann"

Erneut zeigte der Schweizer Komponist Andrea Lorenzo Scartazzini seinen Hang zum Schaurig-Morbiden. Stand in seiner ersten Oper "Wut" die Liebe zu einer Toten im Mittelpunkt, so sind auch im "Sandmann" nekrophile Elemente ironisch eingewoben und die schrille Automatenfrau Clarissa (bei E.T.A. Hoffmann "Olimpia") deutlich aufgewertet.

Thomas Jonigks freie Bearbeitung der Novelle setzt die Betonung auf die psychologische Deutung eines Mannes, der sich für einen Schriftsteller hält, im Laufe des Abends aber an seinen Traumata, seiner schlimmen Kindheit und Gefühlen des Unzulänglichseins scheitert. Seine Liebe zu Clara wird zerstört durch den beginnenden Wahnsinn, während Wahrheit und albtraumhafte Visionen zunehmend verschwimmen. Am Ende scheint das Verrücktsein sogar auf die am Grab Nathanaels kauernde Clara überzugreifen.

Zu Jonigks bisweilen sehr nüchternem, arg auf heute getrimmten Libretto hat Wolfgang-Rihm-Schüler Scartazzini eine aufregend gestische Musik geschrieben, die vor Gefühlen, Thriller-Atmosphäre und angriffslustiger Direktheit nur so sprüht. Die beiden zynischen Toten (Vater und Coppelius) mit ihrem kalten Humor, die nur Nathanael sehen kann, charakterisiert er durch schnarrende Schlagzeuggeräusche und harte Metallschläge. Während sich die Clara-Melodik durch irrsinnige Intervallsprünge auszeichnet, hervorragend gesungen von Agneta Eichenholz, reizt die Puppen-Clarissa mit ihrem stupend repetierten "Aha, ach so" und "ja" zum Schmunzeln.

Der Chor, anfangs noch im Verborgenen, rottete sich zischend und flüsternd als pures Angstgrauen gegen Nathanaels Verstand zusammen. Überhaupt trug er mit zwei effektvollen Tableaus entscheidend zum Gelingen des Abends bei. Einmal als größenwahnsinnig eingebildete Fangemeinde des selbstverliebten Dichters und am Ende als rote Puppen-Klons im Stil der Stepford-Frauen. Aufgelockert wurde die mächtige Klangwucht durch die vielen grotesken Elemente. Die beiden alten Toten versprühten bisweilen den distinguierten Charme von Stan und Ollie, während Nathanaels Dichter-Hybris samt seiner törichten Liebe zur Ja-Sager-Puppe für Lacher sorgte.

Das Frankfurter Opernorchester unter Dirigent Hartmut Keil meisterte die deutsche Erstaufführung von Scartazzinis "Sandmann" mit Bravour. Ensemblestar Daniel Schmutzhard lieferte zum Saisonauftakt eine facettenreiche Interpretation als wahnsinniger Nathanael, und auch der Opernchor unter Tilman Michael lief am Premierenabend zu Höchstformen auf. Viel Jubel brandete Regisseur Christof Loy und Sopranistin Agneta Eichenholz in der Doppelrolle von Clara und Clarissa entgegen, ebenso wie den beiden markanten Tenören, die bereits in der Baseler Uraufführung 2012 für Furore sorgten: Thomas Piffka als zynisch kommentierendem Vater und Hans-Jürgen Schöpflin in der Rolle des tückischen Coppelius.

Im Verein mit Loys konzentrierter Personenregie und Barbara Prals bedrückender Düsterbühne ergab sich ein packendes Gesamtkunstwerk, das mit Sicherheit von weiteren Bühnen aufgeführt werden wird.

(Von Bettina Boyens)

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