Komponistin Gubaidulina: "Westliche Zivilisation ist im Niedergang"

24. Oktober 2016 - 09:15 Uhr

Appen/Hamburg – Gottverlorenheit und wachsender Hass gefährden nach Ansicht der Komponistin Sofia Gubaidolina die Zukunft des Westens. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur zum 85. Geburtstag äußert Gubaidulina die Überzeugung, dass die westliche Zivilisation sich im Stadium des Niedergangs befinde. Hass dominiere zunehmend – eine Folge dessen, dass die Religiosität der Menschen im Westen vertrocknet.

Frage: Am 30. Oktober steht die deutsche Erstaufführung Ihres Oratoriums "Über Liebe und Hass" in der Semperoper in Dresden bevor. Für Sie als russisch-orthodoxe Christin hat Religion einen hohen existenziellen Stellenwert, Sie haben Psalmen und Gebete als Texte ausgewählt. Handelt es sich um ein Schlüsselwerk Ihres Schaffens?

Sofia Gubaidulina

Sofia Gubaidulina

Antwort: Ich glaube ja, denn das Thema Liebe und Hass ist für mich sehr wichtig. Beides ist problematisch geworden in dieser Welt. Denn es geht oft nicht mehr um echte Liebe, sondern nur noch Sex. Und Hass wird inzwischen übermächtig, auch im Westen. Das ist meine Besorgnis für die Kultur überhaupt.

Frage: Worin sehen Sie die Gründe?

Antwort: Ich bin überzeugt, die westliche Zivilisation ist im Stadium des Niedergangs, das ist der Kern. Unser Zeitgeist ist geprägt von Egoismus und Selbstbezogenheit. Der amerikanische Schriftsteller T. S. Eliot (1888-1965) hat einmal Kultur definiert als fleischgewordene Religiosität. Und ich halte das für richtig. Ohne Religiosität, ohne diese Verbindung mit dieser hohen Dimension des Lebens ist alles vertrocknet.

Frage: Welche Bedeutung hat für Sie Beten?

Antwort: Der Mensch betet nicht, damit er geliebt wird, sondern er betet, dass er liebt. Das Problem besteht im Menschen selbst. Im Gebet hilft Gott mir, damit ich liebe. Das ist ungewöhnlich für unseren Zeitgeist.

Frage: Und welche Rolle spielt die Musik für den Menschen?

Antwort: Ich glaube: eine entscheidende Rolle. Es heißt, der Mensch könne ohne Musik nicht existieren, überhaupt nicht leben. Für mich liegt das daran, dass der Mensch beim Hören von Musik "aus der Zeit" fallen und wie ich eine Nähe zu Gott empfinden kann. Ohne diese Dimension existiert der Mensch gar nicht.

(Die Fragen stellte Matthias Hoenig, dpa)

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(24.10.2016 – 09:00 Uhr)

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