Super-Gau im Breughelland: Ligetis Oper "Le Grand Macabre"

18. Februar 2017 - 12:01 Uhr

Berlin (MH) – Heerscharen von Skeletten fallen auf die Erde ein, um die Menschheit zu vernichten. Sensen und Glöckchen schwingend reiten die furchterregenden Gesellen auf klapprigen Gäulen heran und machen allen den Garaus, die ihnen in den Weg kommen. Da wird geköpft, gehenkt und ertränkt, was das Zeug hält. So stellte sich einst der flämische Barockmaler Pieter Brueghel d. Ä. auf seinem Gemälde "Der Triumph des Todes" den Weltuntergang vor. In einem imaginären "Breughelland" spielt die Oper "Le Grand Macabre", zu der sich der ungarische Komponist György Ligeti durch ein 1934 entstandenes Theaterstück von Michel de Ghelderode inspirieren ließ.

"Le Grand Macabre"

"Le Grand Macabre"

Von Brueghels praller Sinnlichkeit, die Ligeti zu aberwitzigen musikalischen Einfällen trieb, war am Freitagabend in der Berliner Philharmonie zumindest beim Anblick des Bühnenbilds wenig zu spüren. Bei seiner halbszenischen Umsetzung der Oper hat Regisseur Peter Sellars die Handlung in eine von nuklearer Vernichtung bedrohte Jetztzeit verlegt. Die von ihrem Chef Sir Simon Rattle dirigierten Philharmoniker spielten zwischen Atomfässern, die mit Plastikplanen abgedeckt waren, bis Liquidatoren anrückten. Auf großen Monitoren liefen unterdessen Videos ab, auf denen Atompilze aufstiegen und Demonstranten auf der Straße ihrer Wut freien Lauf ließen.

So real die nukleare Gefahr nach den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima heute auch erscheinen mag – Sellars Lesart wirkt befremdlich gestrig. Bereits vor 20 Jahren ließ der US-amerikanische Regisseur – zum Ärger des Komponisten – die Oper bei den Salzburger Festspielen in einer verstrahlten Welt spielen. Als er nun mit Rattle die Neuproduktion in Berlin vorstellte, erklärte Sellars: "Die Atomunternehmen sind wieder zurück." Auf den Bühnenmonitoren wurde der Schriftzug "Nuclear Energy Summit, London – Berlin 2017" eingeblendet, auch in Anspielung auf die Aufführungen mit Rattle und dem London Symphony Orchestra Mitte Januar in der Barbican Hall.

Während die Inszenierung – abgesehen von der originellen, vielfarbigen Lichtregie – durchweg steril und eindimensional blieb, rettete Ligetis Musik den Abend. Der kauzige Witz des Ungarn, der nach eigenen Worten die Angst vor dem Tod "durch Komik, Humor und Groteske" überwinden wollte, zeigt sich bereits bei den ersten Tönen, als eine Toccata für zwölf Autohupen die Intrada zu Claudio Monteverdis Barockoper "Orfeo" parodiert. Auf geniale Weise entwarf Ligeti frei nach Ghelderode eine Welt voller vulgärer Ausschweifungen, in die unvermittelt der Tod in Gestalt von Nekrotzar (hervorragend verkörpert von dem Bariton Pavlo Hunka) einbricht. Der Saufbold Piet vom Fass (Peter Hoare), der sich als "Weinabschmecker" vorstellt, wird von dem Tyrannen unflätig beschimpft und als Knecht eingespannt.

Ausdrucksstark zeigt sich auch das Liebespaar Amanda (Anna Prohaska) und Amando (Ronnita Miller), das sich angesichts des drohenden Weltendes lieber zu einem Schäferstündchen zurückzieht. Sellars platziert das Paar ebenso wie im folgenden Bild den Astrologen Astradamors (Frode Olsen) und seine liebestolle Frau Mescalina (Heidi Melton) an einem nüchternen Konferenztisch. Keine Spur von der chaotischen Unordnung in Astradamors' Observatorium, die Ligeti vorschwebte. Der Gipfel der Groteske wird im dritten Bild erreicht, als sich Nekrotzar bei einem wüsten Zechgelage am Hof des infantilen Fürsten Go-Go (Anthony Roth Costanzo) hemmungslos betrinkt und seine Zerstörungspläne zur Farce werden.

Die großartigen Gesangssolisten, die Philharmoniker unter Rattle und der wie gewohnt in Höchstform agierende Rundfunkchor Berlin ließen Ligetis Fantasien in all ihren kühnen Farben lebendig werden. Eine Bravourleistung für alle Mitwirkenden, denn diese im Grunde alle Gattungsgrenzen sprengende moderne Oper ist ein riesiges Puzzle aus unterschiedlichen Musikstilen, von mittelalterlicher Vokalmusik bis zu rumänischer Folklore und den Pink Floyd. Der Chor, der auch auf Zuschauerrängen und im Parkett auftritt, sowie einzelne an verschiedenen Positionen im Saal platzierte Bläser machen die Philharmonie zu einem großen Theater, in dem sich ein beeindruckender Raumklang entfalten kann. In den stürmischen Applaus für Gesangssolisten, Orchester und Chor mischten sich am Ende allerdings unüberhörbare Buh-Rufe gegen die Regie.

(Von Corina Kolbe)

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(17.02.2017 – 22:55 Uhr)

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