Leipzig – Für den Dirigenten Andris Nelsons (39) ist Musik Nahrung für die Seele. Der Lette ist aber auch von ihrer völkerverbindenden Wirkung überzeugt. "Musik ist Ausdruck einer großen Humanität, sie hat eine große Kraft", sagt der neue Gewandhauskapellmeister, der zugleich Chef des Boston Symphony Orchestra ist. Im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur spricht er über seine Motivation, den besonderen Klang der Leipziger und Auswirkungen der Globalisierung auf die Musik.
Frage: Warum Leipzig? Was ist Ihre Motivation?
Antwort: Das Gewandhausorchester gehört zu den besten der Welt und hat eine der reichsten Traditionen. Sie wirken bis heute fort. Auch die Stadt selbst ist attraktiv. Sie ist nicht groß, aber alles ist sehr konzentriert. Es existiert ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Die Leute hier sind sehr stolz auf ihr Orchester, auf ihr Opernhaus und anderes. Das war schon vor mehr als 100 Jahren so.
Komponisten wie Bach, Wagner und Mendelssohn Bartholdy lebten und wirkten hier, viele Musiker starteten in Leipzig ihre Karriere. Ich habe hier die Chance, mit einem unglaublichen Orchester zu arbeiten. Die Chemie zwischen uns hat von Anfang an gestimmt. Auch das Publikum ist sehr lebendig.
Frage: Die Orchester von Boston und Leipzig haben beide eine reiche Tradition. Ist das mehr Ansporn oder mehr Anspannung?
Antwort: Es ist ganz bestimmt eine Inspiration – auf jeden Fall mehr Inspiration als Anspannung. Bevor er vor ein Orchester tritt, verspürt ein Dirigent immer Anspannung, aber das ist normal. Ich denke, dass ein bisschen Anspannung wichtig ist, um gute Leistungen zu bringen. Vor allem in Leipzig – angesichts der genialen Dirigenten und Komponisten, die es hier gab, könnte man denken, dass man eine besondere Anspannung verspüren müsste.
Aber wenn man dann am Pult steht, macht das Musizieren große Freude. Die Gewandhausmusiker haben ein extrem hohes Arbeitsethos. Wenn man zusammentrifft, ist das ein großes Vergnügen. Ich weiß aber auch, dass die Erwartungen an mich in Leipzig hoch sind.
Frage: Sie leiten jetzt zwei Orchester in verschiedenen Teilen der Welt. Ist das nicht zu viel für eine Person?
Antwort: Ich habe jetzt zwar zwei Orchester, es fühlt sich aber an, als hätte ich mehr Zeit als zuvor. Denn ich konzentriere mich auf diese beiden Aufgaben. In Amerika fokussiere ich mich auf Boston. In Europa sind meine Aktivitäten nun sehr auf Leipzig ausgerichtet. Natürlich werde ich noch anderswo gastieren, so bei den Wiener Philharmonikern. Doch jetzt ist meine Arbeit sehr auf Boston und Leipzig ausgerichtet.
Konzentration meine ich auch gedanklich. Wenn man sehr jung ist, ist es natürlich auch gut, viele Erfahrungen mit verschiedenen Orchestern zu machen – schon um das ganze Repertoire kennenzulernen. Aber jetzt ist es mir wichtiger, tiefer zu graben, eine intensivere Beziehung herzustellen und mit meinen beiden Orchestern gemeinsam etwas Neues zu entwickeln.
Frage: Ein Journalist hat dieser Tage sinngemäß geschrieben: Nach der Arbeit ihrer Vorgänger Riccardo Chailly und Herbert Blomstedt kann sich Nelsons ins gemachte Bett legen. Ein gutes Gleichnis?
Antwort: Alle 20 vorherigen Gewandhauskapellmeister haben zur fantastischen Geschichte des Orchesters beigetragen, zuletzt Chailly, Blomstedt und Kurt Masur. Deshalb sind auch die Erwartungen an mich hoch. Ich kann nur sagen: Ich bin glücklich, dieses Orchester zu haben.
Frage: Wie würden Sie den Klang des Gewandhausorchesters beschreiben?
Antwort: Es wird immer viel über den deutschen Klang gesprochen. Beim Gewandhausorchester würde ich eher vom Leipziger Klang sprechen. Er unterscheidet sich ja schon von den nahe gelegenen Berliner Philharmonikern oder der Staatskapelle Dresden. Der Klang ist geprägt von einem Verständnis für Bach und andere. Er ist sehr flexibel, auf eine Art cremig, empfindsam, samtig, transparent, aber tief.
Es gibt kein Schwarz und Weiß, alles ist sehr durchsichtig, da können Phrasen bei Bruckner fast wie Renaissancemusik klingen. Daran kann man sehen, wie das Orchester mit der Historie verbunden ist. Man hört sehr viele Details. Da sind nicht nur drei Farben, das ist eine große Vielfalt.
Frage: Wie würden Sie Ihre Rolle in Leipzig definieren? Sie gelten ja nicht gerade als klassischer Orchestererzieher?
Antwort: Die Aufgabe der Dirigenten hat sich über die Jahrhunderte hin verändert. Er ist heute ein Kommunikator, ein Mittler. Er muss erreichen, dass die Menschen sich von Musik angezogen fühlen. Klar ist es zunächst seine Aufgabe, die Verbindung zum Orchester herzustellen. In dieser Beziehung ist er ein Kollege der Musiker. Das ist Teamarbeit. Die Musiker spielen, der Dirigent gibt die Impulse, unterstützt sie. Das Diktat kommt aber eher vom Komponisten, von der Musik. Es wäre völlig falsch, den Fokus nur auf den Dirigenten zu richten. Der Fokus hat auf der Musik zu liegen.
Frage: Welche Prioritäten wollen Sie in Leipzig setzen?
Antwort: Die größte Priorität besteht darin, die hiesige Tradition fortzusetzen und diese Musik an andere Generationen weiterzugeben. Man darf aber beim Repertoire nicht nur in die Vergangenheit schauen, sondern muss auch die Zukunft im Blick haben. Leipzig hat früher viele Stücke uraufgeführt.
Auch heute müssen wir Komponisten eine Chance geben und ihre Werke aufführen. Denn die Uraufführung eines Brahms-Werkes war damals zeitgenössische Musik. Wichtig ist eine ausgewogene Balance. Ich denke, es ist wichtig, unserem Publikum zu zeigen, dass Musik aus allen Epochen emotional und intellektuell berühren kann, sofern sie gut gemacht ist.
Frage: Es gibt die Befürchtungen, dass in Zeiten der Globalisierung irgendwann alle Orchester gleich klingen. Wie sehen Sie das?
Antwort: Musiker, die aus anderen Teilen der Welt zu einem Orchester in Europa kommen, treten in einen eigenen Organismus ein. Sie spüren die Aura eines Orchesters und werden integriert. Der Klang ändert sich dadurch nicht. Andererseits bringen sie Einflüsse mit, die ein Orchester bereichern können. Das macht doch letztlich unsere Welt besser, oder? Musik kennt keine Grenzen. Die musikalische Sprache ist universell. Die klassische Musik ist zwar in Europa geboren. Aber ihre Essenz und ihr Geist gehen weit über Europa hinaus. Musik ist ein Ausdruck großer Humanität, sie hat eine große Kraft.
(Interview: Jörg Schurig, dpa)
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