Christian Höppner: "Musik um ihrer selbst willen fördern" – Generalsekretär des Musikrats – "Kinder ihren Weg finden lassen"

14. September 2012 - 10:00 Uhr

Berlin – Eine zunehmende Ökonomisierung der Musik hat der Generalsekretär des Deutschen Musikrats, Christian Höppner, kritisiert. Im Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin musik heute warb Höppner gleichzeitig dafür, Kindern die Vielfalt musikalischer Traditionen und der verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten zu vermitteln. Seine Forderung an die Schulen: "Musik muss Hauptfach werden".

Christian Höppner ist auch Vizepräsident des Europäischen Musikrates. Nach einer Ausbildung zum Instrumentallehrer, Musikpädagogen und Cellisten absolvierte er ein Dirigierstudium an der Berliner Hochschule der Künste, der heutigen Universität der Künste. Dort unterrichtet er seit 1986 Violoncello. Der 56-Jährige ist Chefredakteur des Magazins Musikforum. 2001 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.

musik heute: Wie sind Sie selbst zur Musik gekommen?

Christian Höppner

Christian Höppner: Durch mein Elternhaus. Bei uns war jeden Sonnabend Quartettprobe, und wenn ich als Kind nicht zu viel ausgefressen hatte, durfte ich abends noch aufbleiben. Das Cello, das meine Mutter spielte, hat mich so beeindruckt, dass ich das auch wollte. Da war ich acht Jahre alt und konnte das Instrument kaum halten. Dann hatte ich das Glück, auf eine sehr aktive Kirchengemeinde zu treffen. Der Kantor hat jeden Sonntag die entsprechende Bach-Kantate aufgeführt und mich von Anfang an mit reingeholt. Dadurch habe ich nicht nur in "Einzelhaft" am Instrument gesessen, sondern immer gleich gewusst, wofür ich übe. Denn ich konnte in der Gemeinschaft spielen.

Dieser Kantor, Helmuth Hein, hat wirklich eine beispielhafte Kirchenarbeit geleistet, vom Laienmusizieren bis zum professionellen Musizieren. So habe ich etwa bis zum 25. Lebensjahr fast alle Bach-Kantaten als Continuo-Cellist spielen können. Das hat mich sehr geprägt. Vor allem weil Bach sich in kein Gefängnis der Welt sperren lässt und einen für andere Stilrichtungen öffnet. Er macht neugierig auf andere Komponisten und Kompositionen, bis heute hinein in die verschiedensten Stilrichtungen der zeitgenössischen und auch populären Musik.

musik heute: Wie oft kommen Sie heute noch zum Üben?

Christian Höppner: Täglich schaffe ich es nicht, aber mehrmals in der Woche übe ich schon. Manchmal auch nachts. Ich unterrichte ja noch an der Universität der Künste und mache Kammermusik. Ansonsten hat sich die Tätigkeit natürlich schon reduziert. Die Arbeit als Principal Guest Conductor des Brasilianischen Kammerorchesters ruht derzeit, weil es einfach zeitlich nicht geht. Aber das Cello ist meine Wurzel und bildet den roten Faden in meinem Leben. Da bleibe ich immer dran.

musik heute: Haben Sie ein Lieblingsstück?

Christian Höppner: Stück nicht, aber der zentrale Komponist in meinem Leben ist Johann Sebastian Bach. Es gibt viele Wertschätzungen für andere Komponisten, aber keiner ist bei mir so verankert wie Bach. Der hat mich geprägt, und er hinterlässt auch noch unendlich viele unbeantwortete Fragen. Das wird wohl bis an mein Lebensende so sein.

musik heute: Alle Welt schaut mit Respekt auf unsere musikalische Tradition. Warum müssen ausgerechnet in Deutschland selbst die Musiker, die Orchester und Konzerthäuser fast schon ums Überleben kämpfen?

Christian Höppner: Das hat viele Ursachen, wovon ich zwei hervorheben möchte.

Erstens haben wir einen Trend der Ökonomisierung nahezu aller Lebensbereiche. Das ist natürlich auch international ein Prozess, aber er macht sich bei uns besonders bemerkbar. Deutschland hat immer noch eine beispiellose Dichte an professionellen Klangkörpern, aber seit der Wiedervereinigung auch einen deutlichen Abbau. Dabei gibt es auch Flurbereinigung, aber teilweise sind wir inzwischen wirklich in einem Überlebenskampf.

Eine zweite Ursache ist, dass wir immer mehr Kindern die ganze Bandbreite der kulturellen Vielfalt, die wir in Deutschland haben, vorenthalten. Das ist ein Kernproblem, wenn ein Kind nur mit einem engen Korridor an kulturellen Erfahrungen aufwächst. Wenn das Elternhaus es nicht vermittelt und in der Schule der Musikunterricht zu oft ausfällt, dann kann keine Berührung mit anderen Stilepochen stattfinden. Gerade in der Grund- und in der Hauptschule finden bis zu 80 Prozent der Musikstunden nicht statt oder werden fachfremd erteilt.

Es geht nicht um eine Verordnung für die Kinder, dass sie alles lernen müssen. Aber wir verwehren unseren Kindern die Chance der Begegnung mit dem kulturellen Erbe, mit den zeitgenössischen Ausdrucksformen und mit den Kulturen anderer Länder.

Stattdessen blüht eine Eventisierung der kulturellen Bildung auf, auch der musikalischen Bildung. Wir haben immer mehr Projekte. Ich finde Projekte zwar gut, weil sie Impulse vermitteln können. Aber sie sind kein Ersatz für die lebenslange Begegnung, also die Kontinuität in der musikalischen Bildung und die qualifizierte Vermittlung. Es ist chic geworden, Künstler in die Schulen zu holen. Als Additiv finde ich das auch gut, aber es ist kein Ersatz für die professionell vermittelten Künste.

Damit stirbt langsam aber sicher der Nachwuchs aus, nicht nur der Hörernachwuchs. Ich bin fest davon überzeugt – und nicht nur ich -, dass der Reichtum unserer kulturellen Vielfalt nicht nur bewahrt, sondern auch weiterbefördert werden muss. Um diese Vielfalt zu erhalten und weiterentwickeln zu können, ist die Teilhabe daran eine Voraussetzung. Denn wenn die Wertschätzung für das, was wir haben, und der Wunsch, es weiterzuentwickeln, nicht mehr Kernbestandteil unseres Bildungsideals ist, dann wird das zusammenschrumpfen. Wir werden verdorren mit dem, was wir an kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten und Verständigungsmöglichkeiten haben.

musik heute: Wie könnte man die Kitas und Allgemeinbildenden Schulen besser ausrüsten?

Christian Höppner: Es fängt bei den Kitas mit der Erzieherinnen-Ausbildung an. In der ehemaligen DDR hatten die Erzieherinnen musikalische Grundbildung in ihrer Ausbildung, das gibt es heute nicht. Die Fachvermittlung wäre schon mal ein Schritt. Daneben müssen die Kindertagesstätten das entsprechende Instrumentarium anschaffen können. Dazu bedarf es natürlich erheblicher Investitionen, gar keine Frage. Aber es war ja immerhin mal Bestandteil unseres Bildungsideals, wenn wir an (den Musikpädagogen Leo) Kestenberg denken.

Denn die Prägung in den frühen Jahren ist absolut entscheidend. Kinder sollen befähigt werden, ihren Weg zu finden. Es geht nicht darum, aus allen kleine Mozarts zu machen. Stattdessen sollen sie diese Schätze, die wir haben, erfahren können und zwar sowohl kognitiv, als auch durch Selbertun. Da ist der Kindergarten die erste Basis, neugierig zu machen auf das Andere.

Was die Schule anbetrifft, brauchen wir mehr Fachlehrer. Es gibt auch einen Fachkräftemangel im Bereich Musik. Es geht eben nicht zu sagen: 'Der Lehrer XY kann singen, der kann das ja auch mal machen' – das ist fachfremde Vermittlung. Gerade in unserer komplexer werdenden Welt und mit den gesellschaftlichen Veränderungen ist das pädagogische und fachliche Know-How wichtig. Wer von Musik nicht selbst berührt ist, kann sie – finde ich – schlecht vermitteln.

Die emotionale, künstlerische Aussagekraft eines Lehrers und die pädagogische Fähigkeit in der Balance zu halten, ist eine Herausforderung an die Ausbildungsgänge der Hochschulen. Aber die Musikhochschulen und teilweise Universitäten brauchen natürlich die entsprechenden Rahmenbedingungen, um den Schulmusik-Studiengang bedarfsgerecht ausstatten zu können. Schulmusik ist der teuerste Studiengang innerhalb einer Hochschule, denn er ist – zum Glück – sehr komplex angelegt.

musik heute: Was können die Eltern der Kinder leisten?

Christian Höppner: Das ist eine schwierige Frage, denn viele Eltern haben gar nicht mehr die Erfahrung einer kontinuierlichen musikalischen Bildung gemacht. Andererseits – Stichwort "Ökonomisierung der Gesellschaft" – interessiert Eltern vor allem, was sie für ihre Investition bekommen. Als Musikschulleiter hatte ich werdende Eltern in meinen Sprechstunden, die sich nach Angeboten für pränatales Musizieren erkundigten. Als ich nach dem Warum fragte, war eine häufige Antwort: 'Wir haben gehört, Musizieren macht schlau. Wir wollen jetzt schon während der Schwangerschaft, dass die Synapsen kräftig wachsen.' Ich finde es zweifelhaft und traurig, wenn das die Kernmotivation ist. Denn es ist absolut verkürzt und nicht der Sinn von Musik.

Musik ist in erster Linie um ihrer selbst willen zu fördern. Denn im Idealfall ist sie auch zweckfrei. Natürlich gibt es ganz viele positive Transfereffekte. Musik ist aber schon auch janusköpfig. Das sieht man an der Instrumentalisierung durch Rechtsradikale oder in Diktaturen. Da wird Musik sehr bewusst auch zur Menschenbildung und Disziplinierung eingesetzt. Die Musik ist also nicht per se gut. Entscheidend ist, dass sie bei der individuellen Entwicklung eine größere Bandbreite an Empfindungs- und Kommunikationsmöglichkeiten schaffen kann.

Daneben lässt uns Musik das emotionale Leben sehr viel differenzierter gestalten, auch im Selbstausdruck eines Menschen und eben in der Kommunikation mit anderen. Und sie schafft Voraussetzungen, neugierig zu machen auf das, was ich selber nicht kenne. Die Vergewisserung in dem Eigenen – Stichwort Identität, kulturelle Wurzeln – und die Neugierde auf das Andere, sind ja Kernvoraussetzungen, damit sich Generationen und unterschiedliche Kulturen hier in unserem Land verständigen können. Das geht nicht ohne Respekt und Neugier.

Das Bewusstsein, dass Musik abgesehen von ihren positiven Wirkungen ein förderungswürdiger Wert um ihrer selbst ist, ist in unserer ökonomisierten Verwertungsgesellschaft ein rares Gut. Teilweise beginnt das sogar schon in den Kindergärten. Wenn das Angebot aus musikalischer Früherziehung oder Chinesisch besteht, wählen manche Eltern die Sprache mit der Begründung: 'Wir wollen, dass unsere Kinder später bessere Chancen für den Wirtschaftskreislauf haben.' Da bildet sich teilweise eine Elterngeneration heran, die besorgt überehrgeizig ist. Manchmal merke ich auch bei "Jugend musiziert", dass diese Eltern die Kinder auch noch mit Kursen und Training vollstopfen. Die Verkürzung der Schulzeit – Stichwort G8 – macht das noch dramatischer. Glücklicherweise gibt es hier mittlerweile eine Gegenbewegung.

Diese besorgniserregende gesellschaftliche Entwicklung werden wir auch zum Schwerpunkt unserer nächsten Mitgliederversammlung beim Deutschen Musikrat machen. Die Verdichtung des Lebensalltages führt zu einer Verarmung in der eigenen, auch selbstbestimmten kreativen Entwicklung. Dabei sind echte Freiräume wichtig. Und damit meine ich nicht definierte Freizeit, sondern wirklich so, wie ich es noch vom Spielen her kenne: Einfach auch mal Langeweile haben.

musik heute: Die kulturelle und musisch-ästhetische Bildung war in diesem Jahr erstmals auch Schwerpunktthema im Nationalen Bildungsbericht.

Christian Höppner: Besser spät als nie. Zunächst ist dieser Bildungsbericht ein guter Aufschlag, der auch einige positive Tendenzen zeigt. Dennoch werden wir ihn sehr genau untersuchen. Unser Bundesfachausschuss Musikalische Bildung wird sich vor allem mit der Validität der Daten und mit den Argumentationen des Berichts beschäftigen. Natürlich werden wir auch Vorschläge und Forderungen erarbeiten, wie man den von uns erkannten Defiziten in der musikalischen Bildung abhelfen könnte. Diese werden wir im Herbst der Kultusministerkonferenz vorlegen. Das Grundsatzpapier wird unter der Leitidee "Musikalische Bildung in Deutschland – Ein Thema mit 16 Variationen" natürlich der föderalen und der gesamtstaatlichen Verantwortung Rechnung tragen.

Nach dem ersten Durchlesen bestätigt der Bildungsbericht, was wir schon vorher wussten: dass wir kein valides Datenmaterial haben. Eigentlich ist es verrückt, dass es in diesem hochtechnisierten Land nicht möglich ist, eine valide Datenbasis zu bekommen. Zum Teil – da muss man sich nichts vormachen – ist das natürlich auch Absicht. Und im Föderalismus geht das besonders gut, indem man sich einfach nicht auf Standards einigt. Denn damit lässt sich ganz nett argumentieren, nach dem Motto: 'Es fällt gar nicht so viel Musikunterricht aus.'

Die Fächerkombination musisch-ästhetische Erziehung ist ein weiteres Problem, um diese Datenklarheit und Wahrheit noch ein bisschen mehr zu vernebeln. Ich will das nicht als Intention unterstellen, es ist aber eine Folge. Wenn es eine Fächerkombination gibt, kann man immer sagen, der Gesamtrahmen der Fächerkombination kommt vor, die Schüler sind künstlerisch-ästhetisch berührt worden. Aber das Profil der einzelnen Fächer verschwimmt darin vollkommen.

Der Deutsche Musikrat unterstützt, dass sich die Disziplinen, die Künste begegnen, aber immer auf der Grundlage eines Eigenprofils. Wenn Kunst oder Musik nicht als eigenständige Fächer erscheinen, dann kann sich auch nichts begegnen. Wir brauchen schon die qualifizierte und kontinuierliche Existenz im Lehrplan. Ich sage immer: 'Musik muss Hauptfach werden.' Genau wie Lesen und Schreiben, Mathematik und die Sprachen gehört Musik mit dazu.

An dieser Stelle widerspreche ich der Einschätzung des 4. Nationalen Bildungsberichts: Im Vergleich zu anderen Fächern ist die kulturelle Bildung noch unterbelichtet. Bildung insgesamt hat eben nicht nur das Ziel, für den wirtschaftlichen Verwertungskreislauf fit zu machen. Mindestens genauso wichtig ist es, die Reifung des Menschen, die Menschenbildung voranzutreiben. Nur so kann das Zusammenleben in unserer Gesellschaft funktionieren. Denn das ist meine Überzeugung: Wenn es keine Berührung mit den Künsten gibt, ist das soziale Miteinander, das Verstehen und der gegenseitige Respekt in Gefahr.

musik heute: Auf den Wartelisten der öffentlichen Musikschulen stehen 100.000 Kinder …

Christian Höppner: … und das ist nur die statistisch erfasste Spitze des Eisbergs. Die Bedürfnislage ist viel umfänglicher. Ich war ja selber 20 Jahre lang Musikschulleiter an einer kommunalen Musikschule. Daher weiß ich, wie viele sich letztendlich gar nicht erst anmelden, weil sie von einer Warteliste gehört haben. Es ist aber auch ein sehr schönes Zeichen, dass in Zeiten zunehmender Virtualisierung unserer Lebenswelten das Bedürfnis nach non-virtueller Betätigung wieder zunimmt. Gerade Kinder und Jugendliche wollen wieder ihre eigene Stimme ausprobieren, mit einem Instrument mit anderen tatsächlich in einem Raum live zusammen sein und künstlerisch agieren, ob mit Musik, Spiel oder Tanz. Das hat noch nicht mal etwas mit einer Stilrichtung zu tun, ob das nun Klassik oder Pop ist, sondern das ist generell ein Bedürfnis. Und eine Riesenchance.

musik heute: Musiklehrer sind doppelt qualifiziert, haben ein Musikinstrument und Pädagogik studiert. Insgesamt haben sie ihre Ausbildung meist als Kind begonnen. Wie kann es sein, dass manche Freischaffende nicht einmal 11.000 Euro Jahresbrutto verdienen, weniger als der Mindestlohn?

Christian Höppner: Das ist ein gesellschaftspolitischer Skandal, ohne Frage. Wir züchten hier ein neues Prekariat heran. Das heißt, es ist schon da und wird noch weiter ausgebaut. Das zeigt letztendlich – das klingt vielleicht hart – einen Teil der nicht vorhandenen Wertschätzung in unserer Gesellschaft. Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung. Denn wer ist denn noch bereit, zu solchen Bedingungen zu arbeiten, wer es nicht muss?

Es wird einen Fachkräftemangel geben, den wir bei einzelnen Instrumenten jetzt schon haben. Das wird sich weiter auswirken, da bin ich mir sicher. Und hinsichtlich der Qualität dessen, was an Vermittlung nachrückt, will ich mal nur Fragezeichen setzen. Es ist eine wirklich skandalöse Entwicklung mit dramatischen Folgen für die Bandbreite und Qualität der musikalischen Bildung und damit auch für das gesamte Musikleben in Deutschland.

musik heute: Eine wichtige Rolle bei der Musikvermittlung sollen die öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender spielen. Sind Sie mit deren Engagement zufrieden?

Christian Höppner: Meine Wahrnehmung ist, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Zeitalter der Digitalisierung und vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen noch seinen Platz sucht. ARD und ZDF stehen sowohl unter Beschuss der EU, die das System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für wettbewerbsverzerrend hält, als auch im Inland und in den Medien. Ich denke, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte sich viel stärker auf eine sehr eindeutige Profilschärfung einstellen.

Aus dem Rundfunkstaatsvertrag geht ja eindeutig der Auftrag hervor, Orientierung zu geben – nicht nur für den Nachrichtenbereich, sondern auch für Bildung und Kultur. In vielen Teilen passiert das, in anderen aber auch nicht. Und in manchen Bereichen passieren schlimme Dinge, die eine Wirkung auf das ganze System haben. Ich will bewusst keine Sender nennen, aber bei den Anstalten gibt es schon deutliche Unterschiede in ihrem Engagement für Bildung und Kultur.

Katastrophal finde ich – und da nenne ich ganz bewusst den Südwestrundfunk – die Absicht des Intendanten, zwei ausgezeichnete Rundfunkklangkörper zusammenlegen zu wollen, das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart und das Sinfonieorchester Baden Baden/Freiburg. Bei einem Gesamthaushalt von 1,2 Milliarden Euro, den der SWR hat, ist es nicht nachvollziehbar, an so einer Stelle einen Schaden anzurichten, der – wenn überhaupt – erst in ferner Zukunft heilen wird. Diese beiden Orchester haben über Jahrzehnte ein sehr unterschiedliches und auf sehr hohem Niveau stehendes Klangprofil entwickelt. Wenn lebendige Menschen zusammensitzen, dann braucht es einfach seine Zeit. Aber das ist auch der Schatz, um den uns – Sie sagten es eingangs – die ganze Welt beneidet.

Man darf nicht vergessen, dass beide Orchester Volllast haben in ihrer Wirkung und Arbeit. Durch ihre pädagogischen Programme betrifft das auch immer mehr Kinder und Jugendliche. Die Klangkörper haben also ihr Publikum. Was mich so ärgert ist, dass Intendant Boudgoust seine verantwortungsvolle Aufgabe offensichtlich hauptsächlich buchhalterisch versteht. Er beruft sich auch auf ein Gutachten einer Unternehmensberatung. Ich schätze Unternehmensberatungen zwar sehr, aber man soll sie da einsetzen, wo sie ihre Kompetenz haben. Man soll sie nicht benutzen, um eine buchhalterische Entscheidung zu treffen, die aber eine medien- bzw. kultur- und gesellschaftspolitische Entscheidung ist.

Diese Entwicklung hat der Musikrat von Anfang an sehr deutlich und prononciert kritisiert. In dem konkreten Fall ist der Ausgang zwar noch offen. Aber er setzt natürlich nach draußen ein Zeichen, das fatal für die Akzeptanz des Systems ist. So profilierte Dinge wie die Klangkörper, die auch nur ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk leisten kann, müssen eigentlich viel stärker zum Nutzen der Gesellschaft eingesetzt werden. Wenn man sie zusammenlegt, stellt sich letztendlich auch die Existenzfrage für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Hinsichtlich der Zukunft des Kulturradios kritisieren wir auch den Plan des Deutschlandfunk-Intendanten, eine Wortnacht einzuführen. Wenn die Musik aus dem Nachtprogramm komplett verbannt wird, fallen Sendeplätze weg, selbst wenn es Kompensationsideen gibt. Nun sind in der Rundfunkchöre-Orchester GmbH (ROC) exzellente Klangkörper vereint. Wenn die weniger Sendeplätze haben, fragt sich natürlich nicht nur der Rechnungshof, wie diese Klangkörper adäquat eingesetzt werden können.

musik heute: Kunst muss auch für sich werben. Wie sollte das die Musik machen?

Christian Höppner: Eine Möglichkeit ist, über Vermittlungsformen nachzudenken. Ich finde, da passiert gerade bei den Orchestern sehr Beeindruckendes. Nicht durch Anbiederung, sondern in dem Bemühen, berühren zu wollen, den anderen Menschen erreichen zu wollen. Dass man an andere Orte geht, nach dem Motto: "Wenn ihr nicht zu uns kommt, dann kommen wir zu euch" und sich mit pädagogischen und veranstalterischen Konzepten befasst, das alles finde ich gut. Aber wenn versucht wird, mit der Jugendsprache zu operieren: "Klassik ist cool" oder so, dann kriegt das bei mir schon ein Geschmäckle. Denn ich erlebe immer wieder, dass es vollkommen wurscht ist, wie man es verpackt.

Entscheidend ist, dass man den richtigen Ort findet und vor allen Dingen eine ganz authentische künstlerische Leistung hervorbringt. Und das muss noch nicht einmal immer Weltklasseniveau sein. Sie können mit einem Schulorchester, das authentisch musiziert, nicht nur die Eltern erreichen, sondern auch Leute, die von draußen kommen. Einfach weil sie merken, dass die Musiker dafür brennen dass das, was man im Moment hört, ein einmaliges Erlebnis ist.

Die Verpackung ist heute leider oft wichtiger als der Inhalt. Wir leben ja im Zeitalter der Vorherrschaft des Auges. Dieses Visualisieren sieht man bei CD-Covers und bei Werbeplakaten für Veranstaltungen, da wird gepowert. Auch sprachlich leben wir in einer abscheulichen Aufrüstung. In den Nachrichten oder der Werbung wird vom "Ausnahmepianisten" gesprochen oder vom "Star-Dirigenten". Die ganz "normale" Arbeit ohne solch aufgeblasene Überhöhungen geht schon gar nicht mehr. Sogar Laienorchestern versuchen schon, in dilletantischer Weise mit der Werbesprache zu locken. Das ist das absolut falsche Signal.

musik heute: Das Publikum merkt, wenn etwas Falsches herüberkommt.

Christian Höppner: Natürlich!

musik heute: Aber etwas Authentisches merkt das Publikum ebenso.

Christian Höppner: Absolut! Und das ist die frohe Botschaft. Das glaube ich auch sogar weitgehend unabhängig vom Bildungsstand. Wenn man es vielleicht auch nicht so gut artikulieren kann, spürt man aber: 'Hier passiert gerade etwas ganz Besonderes'. Ich glaube, das haben sich Menschen immer noch bewahrt. Bei einem meiner Gastdirigate in Brasilien haben wir einmal Mozarts Symphonie Nr. 29 gespielt. Hinterher kam eine alte Dame zu mir, die ihr Leben lang als Bäuerin gearbeitet hat. Sie konnte eine Mozart-Symphonie bestimmt nicht intellektuell analysieren. Aber sie hat mit ihren Worten beschrieben, was sie gehört hat. Und das hat wiederum mich sehr berührt, weil das genau das war, was ich als Botschaft bringen wollte.

Dieses Berührtsein und Berührenkönnen durch Musik ist so ein zentraler Gedanke, der uns mit dem ganzen Glitter und Glamour, den man jetzt da reinpackt, oft verloren geht. Andererseits ist es natürlich gesellschaftlich gesehen sehr positiv, dass die Live-Konzerte generell einen enormen Aufschwung erfahren. Die Krise der Tonträgerindustrie hat ja viele Ursachen, aber die Live-Konzerte erfahren zum Glück einen Aufschwung. So spüren immer mehr Menschen, dass Tonträger zwar schön und gut und wichtig sind und ohne Frage auch berühren können. Aber das Live-Erlebnis kann durch virtuelles Hören eben doch nicht ersetzt werden.

(Die Fragen stellte Wieland Aschinger.)

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http://www.musikrat.de/

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