Mozarts Requiem: 1. Ein unvollendetes Meisterwerk

17. September 2013 - 11:31 Uhr

Von Dr. Benjamin-Gunnar Cohrs, Musikforscher und Dirigent

Mozarts Requiem war, wie man heute weiß, eine Auftrags-Arbeit des Grafen Franz von Walsegg (1763–1827), der es in einem Gedenk-Gottesdienst für seine jung verstorbene Gattin Anna aufführen lassen wollte und über den Wiener Anwalt Johann Nepomuk Sortschan anonym bei Mozart bestellte. Für den Handel hatte er gut gezahlt – 25 Dukaten Anzahlung, weitere 25 Dukaten bei Ablieferung des fertigen Stückes.

"Mozarts letzte Tage"

Dummerweise starb Mozart zuvor, und guter Rat war teuer. Witwe Constanze hätte die Anzahlung kaum zurückzahlen können und war auf die Rest-Einnahme angewiesen. 50 Dukaten entsprachen nämlich 225 Gulden und somit mehr, als Mozart in drei Monaten offiziell verdiente (Jahresgehalt: 800 Gulden, ohne Neben-Einnahmen).

Am 5. Dezember 1791 starb Mozart; fünf Tage später wurden bereits Introitus und Kyrie aus dem Requiem in seinem Trauer-Gottesdienst aufgeführt. Am 21. Dezember quittierte der von Mozart hoch geschätzte Joseph Eybler (1765–1846) Constanze den Empfang des Autographs mit der Verpflichtung zur Fertigstellung bis Mitte der Fastenzeit 1792, also in nur etwa zwei Monaten. Er gab jedoch aus unbekanntem Grund und zu einem unbekannten Zeitpunkt wieder auf; bis dahin hatte er lediglich Dies irae und Confutatis fertig instrumentiert und war mit der Ausführung der Streicher bis zum Lacrymosa gekommen.

Erst in letzter Minute wurde Franz Xaver Süßmayr hinzugezogen, von dem Mozart selbst als Komponist nicht viel gehalten haben soll; Constanze hatte ihn vielleicht auch deshalb ausgewählt, weil er Mozarts Handschrift täuschend ähnlich nachahmen konnte. Er stellte schließlich die Partitur unter Zeitdruck bis Ende Februar 1792 fertig (dokumentarisch nachweisbar wurde bereits am 4. März 1792 dem preußischen Gesandten in Wien eine Kopie übergeben) und imitierte sogar auf dem Titelblatt Mozarts Unterschrift: Der Graf hatte ja ein Mozart-Stück bestellt und sollte auch eins bekommen! Süßmayr datierte das Titelblatt sogar mit "di me W. A. Mozart m[anu] p[ropria] 1792", obwohl der bekanntermaßen schon 1791 gestorben war. Der erfreute Empfänger schrieb die Partitur ab und setzte seinerseits den eigenen Namen als Autor darauf. Damit begann ein Etiketten-Schwindel, der noch heute anhält, denn oft heißt es nur ‹Mozarts Requiem›, nicht – richtiger – 'Requiem-Fragment', und meist werden gar die Bearbeiter ganz unterschlagen.

Um zu verstehen, ob und wie sich dies Werk vervollständigen ließe, muss man zunächst berücksichtigen, in welchem Zustand Mozart es hinterließ. Die im Faksimile zugängliche Partitur Mozarts bricht mit dem Hostias und seiner Anweisung "quam olim da capo" ab, also dem Schluss des noch auf das Lacrymosa folgenden Offertoriums. Die Legende, Mozart sei nach dem achten Takt des Lacrymosa verstorben, ist dokumentarisch nicht zu belegen. Vielmehr bricht der Satz, wie Christoph Wolff zeigte, an jener Stelle ab, weil Mozart wohl noch vorhatte, eine komplexe Amen-Fuge anzufügen, skizziert auf einem Notenblatt, das 1960 von Wolfgang Plath in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin wiederentdeckt wurde. Den dahin leitenden Schluss des Lacrymosa hätte Mozart dann erst bei Ausarbeitung der Fuge fertiggestellt.

Vom Sanctus (mit Benedictus und Osanna) wie auch dem Agnus Dei (mit Lux aeterna und Cum sanctis) hat Mozart keine Partitur mehr begonnen. Offensichtlich hat er jedoch mit Süßmayr über den weiteren Verlauf gesprochen und angeregt, für die beiden Schlussteile auf Introitus und Kyrie zurückzugreifen. Außerdem hat er offenbar zumindest den Beginn sämtlicher fehlender Teile grob skizziert (Amen, Sanctus, Osanna, Benedictus, Agnus Dei) und ihm diese 'Zettel' zur Verfügung gestellt, wie historische Dokumente nahelegen. Süßmayr hat dann unter Verwendung solcher Skizzen das Fehlende nachkomponiert und praktisch das gesamte Werk instrumentiert.

Von größter Wichtigkeit für eine Komplettierung ist auch Mozarts Vorgehensweise beim Komponieren: Skizzen im eigentlichen Sinne machte er sich beim Requiem nur zu einzelnen Passagen, Stimmführungen und harmonischen Verläufen. Nur sehr wenig davon ist überhaupt erhalten. Das Autograph ist dagegen kein Entwurf, keine Skizze, sondern eine im Entstehen befindliche Original-Partitur. Mozart konzipierte das Requiem ganz vom vierstimmigen Vokalsatz und vom Bass her, was die erste Arbeitsstufe der Partitur darstellt. Gelegentlich notierte er sich in Art einer Kurzschrift Hinweise zur Instrumentierung und setzte Satz-Anfänge und Überleitungen aus.

Die nächsten Stufen wären dann das Instrumentieren der Violinen und Bratschen, die Bezifferung der Bässe (im Manuskript nur unvollständig), die Hinzufügung der Bläser (in diesem Werk lediglich 2 Bassetthörner, 2 Fagotte, 2 Trompeten und 3 Posaunen) und der Pauken, schließlich die endgültige Durchsicht und Hinzufügung weiterer Vortrags-Bezeichnungen. Mozart kam zu all dem nicht mehr. Allerdings wurden diese letzten Stufen als reine Routine-Arbeiten angesehen; es war durchaus üblich, derlei von beaufsichtigten Kopisten und Schülern erledigen zu lassen.

Bisher kaum beachtet wurde noch ein weiterer Umstand: Mozart fand hier nicht nur zu einem neuen Stil, der von seinen Salzburger Arbeiten abweicht. Vor allem war das Werk ursprünglich ja gar nicht zur Veröffentlichung unter eigenem Namen vorgesehen, und somit auch nicht für eine etwaige Aufführung unter ihm selbst (beispielsweise im Stephansdom). Man weiß freilich nicht, ob und in welchem Maße er mit dem für ihn anonymen Auftraggeber über Sortschans Kanzlei entsprechende Absprachen getroffen hat, doch ist nur wenig vorstellbar, dass Mozart bezüglich Umfang und Besetzung des Requiem völlig ins Blaue hinein komponiert hat.

Schon die Aufführung des Introitus im von Schikaneder und Bauernfeld organisierten Gedenk-Gottesdienst für Mozart am 10. Dezember 1791 in der Wiener Hofpfarrkirche St. Michael freilich enthüllte die Existenz des Werkes der Öffentlichkeit, ohne die Umstände des Kompositions-Auftrags zu berücksichtigen. Baron van Swieten setzte dann ein Jahr später das ganze Werk auf das Programm eines Benefizkonzerts für die Mozart-Witwe und ihre Kinder am 2. Januar 1793 im Jahn-Saal.

Der Auftraggeber, Graf Walsegg, war freilich angesichts dieser Aufführungen ebenso indigniert wie über die Veröffentlichung, die auf Betreiben von Constanze im Jahr 1800 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig erfolgte. Nur aus Gutmütigkeit verzichtete er später darauf, rechtliche Schritte einzuleiten. Graf Walsegg selbst führte das Werk erst am 14. Dezember 1793 im Rahmen eines Gottesdienstes in der Zisterzienser Stifts-Pfarrkirche (Neuklosterkirche) in Wiener-Neustadt auf; eine weitere Aufführung unter seiner eigenen Leitung zum eigentlichen Zweck, dem Gedenken seiner verstorbenen jungen Frau Anna, erfolgte nurmehr an derem dritten Todestag, dem 14. Februar 1794, in der Patronatskirche des Grafen, Maria-Schutz am Semmering.

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