Von Manfred Grunenberg, Erfinder des JeKi-Programms
Im Februar 2007 verkündete Jürgen Rüttgers, der damalige Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, ein ehrgeiziges Vorhaben: jedes Kind im Ruhrgebiet sollte die Gelegenheit bekommen, in seiner Grundschule ein Musikinstrument erlernen zu können. Bis 2010, dem Jahr der Kulturhauptstadt im Ruhrgebiet, sollte das Ziel erreicht sein. Für die Trägerschaft kamen zwei weitere Partner ins Boot: die Kulturstiftung des Bundes und die Zukunftsstiftung Bildung in der GLS Treuhand e.V. aus Bochum. Somit war der Rahmen gesteckt, Musikschulen und Grundschulen wurden eingeladen und im Schuljahr 2007/2008 begann der Aufbau.
Heute, nachdem vier Jahre und das Kulturhauptstadtjahr vorüber sind, ist ein guter Zeitpunkt gekommen, zurückzuschauen und das Erreichte zu bewerten.
Rückblick
Die musikpädagogische Initiative "Jedem Kind ein Instrument" hat seitdem viel bewegt. Im Schuljahr 2011/12 werden rund 60.000 Mädchen und Jungen in rund 650 Grundschulen am Programm teilnehmen. JeKi wird nun in 42 der 53 Städte im Ruhrgebiet angeboten und von 51 Musikschulen, kommunalen wie privaten, umgesetzt und betreut. Ab August ist der Projektstatus vorüber und die Initiative wird zum dauerhaften Programm. Das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW wird dann alleiniger Träger der Bildungsinitiative sein.
Was kann man nun als Ertrag der vierjährigen Aufbauzeit identifizieren?
Es ist gelungen, die MusikschullehrerInnen als externe und professionelle Unterstützer in die Grundschule zu integrieren. Es wurden Allianzen zwischen Musikschulen und Grundschulen geschlossen, die langfristig, also nachhaltig sind und wesentlich besser auf Kinder und auf Strukturen wirken können als kurzfristig angelegte Projekte. Ein zentraler Baustein und zweifellos die erfolgreichste Innovation des Programms ist der Tandemunterricht im ersten Jahr: Eine Grundschullehrerin und eine Musikschullehrerin unterrichten im ersten Schuljahr gemeinsam. Sie bereiten die Kinder elementarmusikalisch auf das Erlernen eines Musikinstruments vor. Dieses erste Schuljahr ist seit Sommer 2008 verpflichtend für alle Kinder an allen beteiligten Grundschulen. Eine wesentliche Prämisse konnte somit erreicht werden: Wirklich jedes Kind ohne Ausnahme hat die Möglichkeit, sich ein Instrument auszusuchen und ab dem zweiten Schuljahr zu erlernen.
Seit Beginn konnten bisher über 85.000 Kinder vom Programm "Jedem Kind ein Instrument" profitieren. Auch Förderschulen sind einbezogen. Allerdings bedarf sowohl die Weiterführung über die Grundschulzeit hinaus als auch die sogenannte soziale Reichweite innerhalb des Programms einer weiteren Verbesserung. Nur dadurch kann sichergestellt werden, dass die Kinder aus weniger kulturintegrierten und eher bildungsfernen Familien nicht frühzeitig wieder aufgeben.
Der nötige Bedarf an Lehrkräften für den JeKi-Unterricht konnte im Großen und Ganzen gedeckt werden. Es waren zwar erhebliche Anstrengungen erforderlich. Anzeigenkampagnen wurden geschaltet und die Agentur für Arbeit half tatkräftig mit. Am Ende gab es rund 600 neue Jobs für MusikschullehrerInnen. Allerdings sind nur etwa die Hälfte der LehrerInnen mit tariflicher Vergütung angestellt, die anderen im unbefriedigenden Stand der Honorartätigkeit. Hier zeigt sich die unselige Wirkung der Armut in den kommunalen Haushalten der Musikschulen.
Für die Lehrkräfte an den Musikschulen gab es viele Neuerungen. Der Diskurs über den Standpunkt und die Methodik des musikpädagogischen Handelns brach recht bald aus und füllte Foren, Kongresse und Fachblätter mit engagierten und leidenschaftlichen Beiträgen. Insbesondere trat der Gruppenunterricht im Rahmen der Grundschule in den Fokus. Er war in den Musikschulen zwar üblich, doch noch viel zu wenig als Aufgabe erkannt, und er bleibt weiterhin eine Herausforderung für die gesamte Berufsgruppe der Instrumentalpädagogen.
Folgerichtig entwickelte die Stiftung Jedem Kind ein Instrument ein umfangreiches Fort- und Weiterbildungsangebot, in das auch andere Anbieter und einige Musikhochschulen einbezogen wurden. Gemeinsam mit dem Schott-Verlag und erfahrenen PädagogInnen wurden für die Kinder umfangreiche Unterrichtsmaterialien erstellt, die den Unterricht unterstützen können.
Für Musikschulen bringt das Programm viele inhaltliche und organisatorische Neuorientierungen. Mit einem frischen Schwung werden die tradierten Strukturen modernisiert. Dazu gehören auch weitreichende Veränderungen in der Pädagogik und eine klare Orientierung an den Bedürfnissen der Kinder.
Für dieses Vorhaben konnten Geldströme gebündelt und gemeinsam für eine Sache eingesetzt werden. Nicht weniger als fünf Ebenen wurde koordiniert: finanzielle Mittel des Bundes, des Landes, der Kommunen sowie Beiträge von Eltern und privaten Spendern wurden für das Programm ineinandergreifend eingesetzt. Durch Fundraising-Maßnahmen konnten Mittel in bisher ungekannter Millionenhöhe eingeworben werden. Sie wurden eingesetzt, um Musikinstrumente zu kaufen und um finanziell bedürftige Kinder mit Stipendien zu unterstützen. Im Zuge dieser Maßnahmen haben viele Musikschulen im Ruhrgebiet erstmalig eine Fundraising-Kultur für sich aufbauen können. Schließlich sind mehr als 25.000 Musikinstrumente angeschafft worden.
JeKi gilt bei den Schülereltern im Ruhrgebiet als Qualitätsmerkmal für Grundschulen. Zudem hat es überregional eine starke Vorbildfunktion und Strahlkraft entwickelt. Zahlreiche "Nachfolger-Projekte" sind mittlerweile in Gang gekommen. In Hamburg und in Hessen gibt es landesweite Programme gleichen Namens; in Niedersachsen und in Baden-Württemberg wurden landesseitig große musikpädagogische Programme aufgelegt, die wesentliche Anregungen aus dem JeKi-Impuls des Ruhrgebiets aufgenommen und durchaus weiterentwickelt haben. Aber auch in NRW selbst haben viele Städte ausserhalb des Ruhrgebiets auf eigene Initiative hin eine JeKi-Entwicklung angestoßen.
Die landesweiten JeKi-Initiativen wiederum haben sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen, das gemeinsame Standards entwickelt und regelmäßig den Fortschritt der einzelnen Initiativen unter die Lupe nimmt.
Ausblick
Zweifellos ist trotz des sehr raschen Aufbaus des Programms viel erreicht worden. Andererseits sind einige Probleme noch nicht befriedigend gelöst, und einige Themen konnten erst sehr anfänglich angepackt werden. Also ist auch über Verbesserungspotentiale zu reden.
Trotz der hohen finanziellen Förderung des Musikschulunterrichts und des Instrumentenkaufs fehlen finanzielle Ressourcen für den Aufbau von dringend benötigten kommunikativen Strukturen. Es müssen Menschen vorhanden sein und auch dafür bezahlt werden, die die notwendigen Absprachen zwischen Musikschulen und Grundschulen bewältigen. Hier bremst die kommunale Armut und behindert den Aufbau der Strukturen. Bildungsferne Familien müssen von der Notwendigkeit kultureller Bildung für ihre Kinder überzeugt werden. Das gelingt nur im Gespräch mit Menschen, die sich in den sozialen Zusammenhängen dieser Familien auch permanent bewegen. Zudem sind die derzeitigen Förderstrukturen im Programm noch recht starr angelegt. Eine größere Flexibilität der Förderung muss entwickelt werden, um das Programm passgenau vor Ort einsetzen zu können.
Eine eminent wichtige Entwicklungsaufgabe ist es, das Programm inhaltlich zu erweitern. Singen, Tanzen und Musiktheater sollten gewichtige Bereiche werden, die neben den Musikinstrumenten als Angebote für die Unterstützung der Grundschule vorhanden sein müssen. Erst dann kann die ganze Breite der musikalischen kulturellen Bildung in der Schule realisiert und genutzt werden.
Die von den Musikschulen getragenen instrumentalen Lerngruppen sind vielerorts noch nicht bei ihren vollen Möglichkeiten angekommen. Es ist die individuelle Förderung in heterogenen Lerngruppen, die noch erheblich verbessert werden kann. MusikschullehrerInnen haben vielfach exzellente Lösungen erarbeitet, doch verfügen bei weitem noch nicht alle in ausreichendem Maß über diese spezielle Kompetenz.
Noch ein Wort zur wissenschaftlichen Evaluation: Mit erheblichen Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung werden sechs große und internationale Forschungsvorhaben durchgeführt, um das Programm zu evaluieren und um Grundlagenforschung zu betreiben. Leider erst ab 2013 sind die Ergebnisse der umfangreichen JeKi-Forschung verfügbar und es ist zu hoffen, dass sie dann auch Orientierungshilfen für die weitere Optimierung des JeKi-Programms und die nachfolgenden musikpädagogischen Initiativen enthalten.
Ein Anfang ist gemacht, ein neues Feld ist eröffnet und will beackert werden.
(Manfred Grunenberg ist Leiter der Musikschule der Stadt Bochum sowie Erfinder und Mitentwickler des Jeki-Programms für das Ruhrgebiet. Er war von 2007 bis 2011 Gründungsvorstand der Stiftung Jedem Kind ein Instrument und JeKi-Projektleiter.)