Emphatischer Beifall für Castelluccis provokante "Matthäus-Passion" in Hamburg

22. April 2016 - 11:47 Uhr

Hamburg – Die Theaterwelt kennt Romeo Castellucci als einen mutigen, radikalen Bild-Erfinder und -Verwandler. Wobei den Italiener vor allem Meisterwerke der Literatur und Musik zu ebenso gefeierten wie umstrittenen Theaterarbeiten animierten. So riss er Dantes "Comedia", Sophokles' "Ödipus", Wagners "Parsifal" in den Strudel seiner rabiaten Regie-Visionen. Zu Strawinskys "Sacre" ließ er gleich 30 Tonnen Rinder-Knochenpulver aus Schüttanlagen in Bochums Jahrhunderthalle rieseln.

La Passione

La Passione

Nach den Tier-Opfern nun also der Opfer-Tod Jesu. Denn zur Eröffnung des 2. Internationalen Musikfests hatte Hamburgs neuer Opernintendant Georges Delnon eine theatralische Adaption von Bachs berühmter "Matthäus-Passion" in Auftrag gegeben. Für Castelluccis provokante Deutung gab es am Donnerstagabend in den Deichtorhallen emphatischen Beifall vom Premierenpublikum.

Als Gipfelwerk der europäischen Sakralmusik übt die "Matthäus-Passion" bis heute bei gläubigen Christen wie bei Anders- und Nichtgläubigen größte Faszination aus. Blasphemische Ausfälle, Schreckens- und Schockbilder um jeden Preis wären hier also fehl am Platz. Doch Castellucci blieb ohnehin bei seiner Hamburger Bach-Annäherung "La Passione" im Gegensatz zu früheren krasseren Praktiken erstaunlich zurückhaltend. Stellte sich erst einmal ganz in den Dienst der Bachschen Musik, die unter Kent Naganos schlagkräftiger Leitung denn auch ohne alle krassen Eingriffe zu hören war.

Wobei die Musiker und das Gros der Statisten allesamt in Weiß gekleidet waren. Ein starker Effekt, der in dem ebenfalls ganz in Weiß strahlenden Aufführungsort der alten Hamburger Deichtorhallen mit ihrer grandiosen Stahlglas-Architektur doppelt beeindruckte. Man fühlte sich wie in einer Klinik, einem Versuchslabor, in dem die schmerzlich bitteren Stationen von Jesus' Leidensgeschichte von Gethsemane bis zur Kreuzigung auf Golgatha in stetem Auf und Ab einer eigenwilligen Analyse unterzogen wurden.

Mit Hingabe experimentierte Castellucci in seiner dreistündig pausenlosen Passions-Paraphrase vor allem mit Blut, das in Text und Musik der Bachschen Matthäus-Passion ja programmatische Bedeutung hat – als Symbol von Christi Leiden. "O Haupt voll Blut und Wunden", so heißt denn auch der berühmteste Passions-Choral. Aus einem ausgestopften Lamm schoss gar tiefrotes Kunstblut per Pumpe bedeutungsschwer in einen Kelch.

Ein umgekippter Reisebus, eine Waschmaschine für blutige Kreißsaallaken, ein Kühlschrank (für das letzte Mahl im Hamburger Leuchtfeuer-Hospiz), ein Amputierter, eine im Sarkophag lebend eingeschlossene Frau, eine Kiefer, die zum Kreuzesstamm, Stacheldraht, der zur vergoldeten Dornenkrone wurde: So reihte sich ein ungewöhnliches Bild an das andere.

Die Interpretationen waren mal mehr, mal weniger sinn- und spannungsvoll, mal auch nur banal. Immer aber im nachdenklichen, bewusst querständigen Verweis auf Bachs theologische Botschaft der Trauer, der Klage, des Mit-Leidens und des verheißungsvollen Trostes. Kent Nagano gab dieser Botschaft an der Spitze der Philharmoniker, der Audi-Jugendchorakademie und der von Ian Bostridge äußerst lebhaft angeführten Solisten jedenfalls ausdrucksmächtig und subtil die entscheidenden musikalischen Konturen.

(Von Barbara Sell, dpa/MH)

Mehr zu diesem Thema:

Castelluccis "La Passione" eröffnet Musikfest Hamburg
(22.04.2016 – 09:35 Uhr)

Link:

http://www.musikfest-hamburg.de

© MUSIK HEUTE. Alle Rechte vorbehalten – Informationen zum Copyright

Mehr zu diesen Schlagwörtern: , , , , , , ,
Print Friendly