Rom – "Nein, nein, nein, ein Graus, eine Sauerei!" Oder: "Es ist immer noch nicht gut!" Auf YouTube kann man Stunden damit verbringen, die Wutausbrüche eines Italieners zu verfolgen – oder einige seiner beeindruckendsten Konzerte, bei denen es scheint, als würde er das Orchester führen wie eine Marionette. Der italienische Dirigent Arturo Toscanini, dessen 150. Geburtstag die Musikwelt am (heutigen) Samstag feiert, steht für beides: für seine Unerbittlichkeit und seine Genialität am Pult.
In Italien wird an den wohl berühmtesten Orchesterleiter des 19. und 20. Jahrhunderts mit zahlreichen Konzerten, Ausstellungen und Veranstaltungen erinnert, in den Zeitungen sind Würdigungen zu lesen – dabei wurde er zu Lebzeiten längst nicht nur geliebt. Er verlangte seinen Musikern und sich selbst Perfektion ab und ging als "Maestro assoluto" in die Geschichte ein. Das Publikum von New York bis Mailand feierte ihn – und mit welcher Präzision er seine Musiker leitete, war selbst im Radio zu hören.
Toscanini wurde am 25. März 1867 als Sohn eines Schneiders in Parma geboren. Eine Lehrerin war es, die seine außergewöhnlichen Talente entdeckte. Nach einem Mal Lesen konnte er ganze Gedichte auswendig aufsagen, am Klavier traf er jede Note sofort, die soeben noch gesungen wurde. Mit neun Jahren kam der Hochbegabte ins Konservatorium. Noch als Erwachsener sprach er von "Gefängnisatmosphäre", als Internatsschüler konnte er seine Eltern nur einmal pro Woche sehen. Nach dem Abschluss schlug er sich zunächst als Cellist ohne festes Engagement durchs Leben.
Dann das unvorhergesehene Debüt: Als 19-Jähriger – Toscanini hatte noch nie eine Oper dirigiert – war er als Cellist mit dem Impresario Claudio Rossi auf Südamerikatournee. In Rio de Janeiro warf Rossi nach einem Streit den Dirigenten raus und teilte Toscanini nur Minuten vor der Aida-Aufführung mit, dass er ans Pult müsse. Als Grundlage diente Toscanini lediglich ein Klavierauszug. Ohne kompletten Notensatz griff Toscanini zum Taktstock und dirigierte aus dem Gedächtnis. Von da an ging es steil bergauf.
1886 berief man ihn an das Teatro Carignano in Turin, wenig später ging er an die Mailänder Scala. Im Jahr 1907 verließ er nach Querelen das Haus und übernahm die künstlerische Leitung der New Yorker Metropolitan Opera. In der beeindruckenden Liste seiner Uraufführungen reihen sich "Pezzi sacri" von Giuseppe Verdi, "Bajazzo" von Ruggiero Leoncavallo, "La Bohème" und "Turandot" von Giacomo Puccini sowie Opern von Umberto Giordano und Ildebrando Pizzetti aneinander. Und Toscanini blieb dabei: Er dirigierte die Konzerte und Opern aus dem Gedächtnis.
"Er stellte ein neues Werkverständnis in den Mittelpunkt, bei dem es in erster Linie auf die Aussage der Partitur und den mutmaßlichen Willen des Komponisten ankam, nicht auf das, was ’schon immer so gemacht' wurde", sagt Musikwissenschaftler Daniel Brandenburg von der Universität Salzburg. Toscanini habe den modernen Dirigierstil und ein modernes Verständnis von musikalischer Interpretation begründet. Als innovativer Querdenker im Sinne der Musik habe er sich bei Wagner in Bayreuth den Orchestergraben abgeschaut und ihn zum Beispiel auch in Mailand eingeführt.
Als "unbeugsamer, aufrechter Vertreter seiner musikalischen, menschlichen und politischen Überzeugungen" – wie Brandenburg ihn beschreibt – weigerte sich Toscanini unter den Nazis, in Deutschland zu spielen. Auch im Italien Mussolinis hielt er es nicht lange aus, 1937 ging er nach New York ins Exil, wo er das eigens für ihn gegründete NBC Symphony Orchestra leitete. Auf Schallplattenaufnahmen ist der unvergleichliche Toscanini-Stempel zu hören, mit seinem Tempo und seiner Präzision.
Doch sein Erfolg brachte ihm auch Kritik und Rivalitäten ein. Musik-Philosoph Theodor W. Adorno etwa nannte Toscaninis Musik "Fertigfabrikat" und den Maestro selbst "Kapellmeister" und "Taktschläger". Der deutsche Konkurrent Wilhelm Furtwängler nannte Toscaninis Erfolg einst "verhängnisvoll" und bedauerte, "dass in Amerika die Menschen meinen, dass Beethoven so klingen soll". Schlagfertig wie Toscanini war, revanchierte er sich bei seinem Widersacher und nannte ihn einen "Hanswurst".
Am strengsten aber blieb Toscanini mit sich selbst. Lief bei einem Auftritt etwas schief, sagte Toscanini, "ist das immer meine Schuld, wer glaubt, dass Mozart, Beethoven, Wagner oder Verdi sich irren, ist ein Idiot". Im Alter von fast 90 Jahren starb Toscanini in einem Vorort von New York, seine letzte Ruhestätte fand er wie so viele andere Opern-Größen auf dem Mailänder Zentralfriedhof.
Heute gilt er als "sagenhaft, wegweisend und italienisch", wie ihn der junge Musikdirektor aus Bologna Michele Mariotti bezeichnet, der soeben ein Konzert zu Ehren Toscaninis dirigiert hat. "Er hat die Welt erobert, ohne zu vergessen, von wo er kam." Ein Vergleich mit anderen Orchesterleitern würde Toscanini nicht gerecht, sagt Musikwissenschaftler Brandenburg. "Ich finde, dass er ruhig der 'Übervater' heutiger Dirigenten bleiben kann."
(Von Lena Klimkeit, dpa/MH)
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