Berliner Philharmoniker streiten um neuen Chefdirigenten – Gescheiterte Wahl offenbart Meinungskluft

12. Mai 2015 - 16:32 Uhr

Berlin – Schon Anfang 2013 hatte Simon Rattle erklärt, dass er nur noch bis 2018 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker bleiben werde. Scheinbar genug Zeit für das Orchester, sich auf einen Nachfolger zu einigen. So sollte die Wahl am Montag auch bis zum frühen Nachmittag abgeschlossen sein. Doch nach fast zwölfstündigen Diskussionen gingen die 123 teilnehmenden Musiker ohne Ergebnis auseinander. Zur erneuten Abstimmung wollen sie sich erst innerhalb eines Jahres wieder treffen.

Berliner Philharmonie

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Mit der verpatzten Wahl haben sich die Berliner Philharmoniker in eine Schieflage manövriert. Das Scheitern hat eine tiefe Meinungskluft im Orchester offenbart, das Weltklasse-Ensemble hat eine Schramme bekommen. Man habe sich auf keinen Dirigenten einigen können, sagte Orchestervorstand Peter Riegelbauer am Montagabend. Doch in dem nun sichtbar gewordenen Streit geht um mehr als Namen.

Ob Christian Thielemann oder Andris Nelsons, Gustavo Dudamel oder Daniel Barenboim – sie und die anderen Kandidaten wissen jetzt, dass ihr Name unter den 124 stimmberechtigten Musikern keinen Konsens findet. Die Philharmoniker sind aber optimistisch: Man gehe davon aus, dass das Verhältnis zu den Dirigenten ungetrübt bleibe.

Vorherige Personalien des selbstverwalteten Orchesters waren geräuschlos über die Bühne gegangen. Für Herbert von Karajan sprachen sich die Philharmoniker 1954 einhellig aus. Erst danach wurden die Wahlen wirklich demokratisch. Bei Claudio Abbado stand der Italiener 1989 zunächst nicht auf der Liste. Im Gespräch waren Carlos Kleiber, Barenboim, Mariss Jansons und auch Rattle – Abbado wurde Überraschungssieger. Auch bei Rattles Wahl 1999 wurde lange diskutiert, Barenboim zeichnete sich als erste Wahl ab und wurde es dann doch nicht. Die Öffentlichkeit erfuhr damals kaum etwas.

Eine Frage des künstlerischen Profils

Wo heute der Riss verläuft, lässt sich nur ahnen. Nach mehr als zehn Jahren wünscht sich ein Teil des Elite-Ensembles eine andere Vision. Programme für kulturferne Jugendliche, eine "Digital Concert Hall" für Musik-Streaming, das Orchester live im Kino – die öffentlich und privat geförderten Philharmoniker sind zwar im 21. Jahrhundert angekommen, einige vermissen aber ein deutliches künstlerisches Profil.

Immer wieder gab es interne Kritik an Rattles Programmen, die zwar breitgefächert seien, aber für viele die sinfonische Musik des 19. Jahrhunderts und den für die Philharmoniker charakteristischen Klang vernachlässigten. Wie beim Streit um die Berliner Volksbühne zwischen Event- und Hochkultur geht es auch bei den Philharmonikern um die Rolle öffentlich geförderter Kulturinstitutionen.

Eine starke Strömung im Orchester favorisiert den Traditionalisten Christian Thielemann (56), Chef der Staatskapelle Dresden. Der einstige Karajan-Assistent gilt als Konservativer mit einem Hang zu den spätromantischen deutschen Werken und Komponisten wie Richard Wagner, Johannes Brahms und Richard Strauss.

Viele sehen dagegen Thielemanns Repertoire als zu begrenzt an, mögen auch seine politische Haltung nicht, die er etwa in jüngsten Zeitungsbeiträgen zu Pegida äußerte. Jemand wie der 36-jährige Nelsons sei da eher zukunftsfest. Den hatte nach seinem Auftritt mit den Berliner Philharmonikern vor wenigen Tagen auch das Publikum in einer nichtrepräsentativen Umfrage favorisiert.

(Von Esteban Engel und Nada Weigelt, dpa/MH)

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