Frankfurt am Main (MH) – Mit einer reifen Mahler-Interpretation hat das Boston Symphony Orchestra (BSO) unter seinem Pultmeister Andris Nelsons am Dienstagabend eine erstklassige Visitenkarte abgegeben. In der Alten Oper Frankfurt gelang es den amerikanischen Gästen überragend, Mahlers neunte Sinfonie als Ergebnis sorgfältiger Werkauslegung und gründlicher Probenarbeit zu präsentieren.
Besonders Nelsons, seit 2014 Chefdirigent des BSO, wirkte wie verwandelt. Bekannt für sein energisch überschäumendes Temperament, führte er den Taktstock diesmal voll konzentrierter Zurückhaltung und ging andächtig in Mahlers ahnungsvoller Abschiedssinfonie auf. Dabei blieben keine Sekunde Zweifel an der geradezu magisch intensiven Verbindung zwischen ihm und seinen vorzüglichen Musikern.
Pikanterweise war es ausgerechnet dieses Werk, mit dem der Lette sich 2011 als Einspringer für James Levine erstmals beim BSO vorgestellt hatte. Für jeden war ersichtlich, dass aus dem sofort zündenden künstlerischen Funken von damals mittlerweile ein befruchtender Austausch erwachsen ist. Einen Wermutstropfen müssen die Bostoner allerdings schlucken: Ab Februar 2018 teilen sie sich ihren Musikdirektor mit dem Leipziger Gewandhausorchester.
Ob Mahler mit seiner letzten vollendeten Sinfonie vom Leben Abschied nehmen wollte oder nicht, darüber streiten sich die Exegeten von Adorno bis Jens Malte Fischer wie die Kesselflicker. Dass sie mit Alban Berg aber "das erste Werk der neuen Musik" darstellt, gilt heute als unstrittig. Einmalig war auch diesmal zu hören, wie Mahlers komplexer erster Satz quasi aus dem Nichts erwächst und sich die zögerlichen, nicht ausgereiften Melodienfetzen der Streicher blind suchend ihren Weg ertasten müssen. Nach einem launigen, tänzerischen zweiten Satz, in dem markantes Blech und exquisite Holzbläser erstrahlten, trumpfte Nelsons in der Rondo-Burleske partiturgetreu "trotzig" bis zur Überreizung auf. Dann die Entladung: Mit dem innigen Adagio, dem vielleicht edelsten Satz, den Mahler je geschrieben hat, gelang es ihm, die Streicherspannung volle 20 Minuten zu halten.
Andächtige Stille herrschte ganze fünfzehn Sekunden nach Beendigung der verlöschenden Musik, fünfzehn Sekunden, in denen die Alte Oper den Atem anzuhalten schien. Dann erst brach der Jubel los. Lange haben die Frankfurter auf einen Besuch des renommierten Bostoner Klangkörpers warten müssen, ein ganzes Vierteljahrhundert. Zynisch möchte man sagen: Das Warten hat sich gelohnt. Sie erlebten eine Sternstunde der klassischen Musik.
(Von Bettina Boyens)
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