Die Avantgarde aufgerüttelt und Kritiker verblüfft – Komponist Steve Reich wird 80

03. Oktober 2016 - 09:30 Uhr

New York – So manch konservativen Klassik-Hörer dürfte Steve Reich erst einmal etwas verwirren. Unharmonische Tonschleifen, schräge Klangchöre, keine klare Hierarchie – die Musik des amerikanischen Komponisten gleicht beim ersten Zuhören eher einem Labyrinth als einem runden, abgeschlossenen Werk. Doch wer sich in den Bann seiner Minimal Music ziehen lässt, wird Zeuge fabelhafter, außergewöhnlicher Experimente. Am (heutigen) Montag wird der aus Sicht mancher Kritiker bedeutendste Komponist der USA 80 Jahre alt.

Steve Reich

Steve Reich

Unkonventionell ist schon das Medium, mit dem der in New York geborene Sohn einer Sängerin und Songtexterin und eines Anwalts sein Publikum anspricht. Sein vielleicht bekanntestes, auf vier Kontinenten aufgeführtes Werk "Three Tales", in dem er gemeinsam mit Beryl Korot den Absturz des Zeppelins "Hindenburg", die Atomversuche auf dem Bikini-Atoll und die Geschichte des Klon-Schafs Dolly thematisiert, kommt als einstündige Videooper daher. Reich verknüpft Zeitgeschichte mit einer mal bedrohlichen, mal treibenden, mal heiteren aber immer sehr räumlichen Klangkulisse.

Mit seinen Avantgarde-Kompositionen hat Reich nicht nur eine breite Palette musikalischer Stile umschlossen, sondern das junge Klassik-Genre des Minimalismus nachhaltig geprägt. Nach zwei Grammys (1988 für "Different Trains", 1998 für "Music for 18 Musicians"), einem Pulitzer-Preis für Musik (2009 für "Double Sextet") sowie Ehren-Doktortiteln mehrerer Musikschulen ist der Einfluss Reichs heute auch über die Grenzen der USA hinaus nicht zu übersehen – und nicht zu überhören. In seinem Werk hat er stets jüdische Akzente gesetzt, nachdem er bereits in den 1970er Jahren in New York und Jerusalem hebräisch lernte und die Thora studierte.

Erste Entdeckungen in der Welt der Musik machte Reich im jungen Alter von 14 Jahren, als er auf das Werk der Komponisten Johann Sebastian Bach und Igor Strawinsky stieß. Nach Jazz-Sessions als Schlagzeuger und einem Philosophie-Abschluss der Cornell-Universität widmete Reich sich schließlich an der Juilliard School sowie im Sommerstudium an der Universität von Ghana in Accra seiner eigenen Klangkunst. Nicht nur seine Stunden mit einem Meistertrommler des Ewe-Stammes in Ghana zeigen, wie offen er für neue, ganz andersartige Einflüsse abseits des in der westlichen Welt bekannten Klassik-Spektrums bleib.

New York, Los Angeles, Sydney, Boston – viele große Orchester im angelsächsischen Raum haben sich das Werk des Minimalisten schon vorgenommen. Auch in Deutschland, etwa an der Wuppertaler Oper, bei den Kunstfestspielen Herrenhausen in Hannover, den Berliner Festspielen oder beim "TonLagen"-Festival der zeitgenössischen Musik in Dresden wurde Reich für seine Kunst gefeiert. "Es gibt nur eine Handvoll lebender Komponisten, die rechtmäßig behaupten können, die Richtung der musikalischen Geschichte verändert zu haben, und Steve Reich ist einer von ihnen", urteilte der britische "Guardian" einmal.

Es ist die Weite von Reichs Musik, das Gefühl von Raum, die zum Markenzeichen des mit der Video-Künstlerin Beryl Korot verheirateten Komponisten geworden ist – weshalb die Zuhörer den Stücken ihrerseits Raum geben müssen, sich zu entfalten. "Meine Musik wird Beine haben, um zu überleben, in welchem Kontext sie sich auch immer befindet", sagte Reich in einem Interview 2006. "Aber ich würde mir sicherlich wünschen, dass die Menschen das ganze Stück anhören würden und nicht nur einen Brocken davon."

(Von Johannes Schmitt-Tegge, dpa/MH)

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