Das Bild wirkt wie aus einem Science-Fiction-Film: Die Köpfe von vier jungen Frauen sind mit Kabelanschlüssen übersät, im Gesicht und an den Händen sind sie ebenfalls verdrahtet. Doch dann greifen sie nach ihren Gitarren und bringen schöne Musik zum Erklingen. Am Rechner daneben sitzt die Entwicklungspsychologin Johanna Sänger und beobachtet die Gehirnwellenmuster der Musikerinnen vom "Cuarteto Apasionado". Ob diese sich bei der gemeinsamen Arbeit angleichen, versucht sie herauszufinden. Im Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin musik heute schilderte Johanna Sänger ihre Forschung.
"Nein, ob jemand falsch gespielt hat, können wir damit nicht erkennen", beruhigte die junge Doktorandin erst einmal mit einem Lachen. "Wir sehen nur, wenn sich eine Musikerin anspannt, aber nicht warum. Dafür ist der Versuch auch gar nicht ausgelegt." Stattdessen will man am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung herausfinden, was in den Gehirnen von Menschen passiert, die in irgendeiner Weise zusammenarbeiten. "Zwischenmenschliche Handlungskoordination" nennen das die Wissenschaftler und diese sollte in "lebensnahen Situationen" untersucht werden. Dabei geht es nicht nur um Gitarristen, auch Chorsänger und sich küssende Paare wurden in dem Projekt „Interactive Brains, Social Minds“ schon untersucht.
Die größte Schwierigkeit an ihrer Forschung ist, dass dafür keine Vorgaben existieren, wie Johanna Sänger erklärte: "Klassischerweise laufen Studien so ab: Man hat eine Theorie, leitet daraus eine Hypothese ab und gestaltet einen Versuchsaufbau. Aber zu unserer Forschung gibt es weder eine Theorie im eigentlichen Sinne, noch eine gerichtete Hypothese. Und schon gar kein feststehendes Design. Wir haben nur eine Untersuchungsfrage und vage Annahmen. Deshalb geht unsere Analyse anfangs in alle Richtungen. Den eigentlichen Weg finden wir erst anhand der Erfahrungen, die wir mit der Zeit machen. So wollen wir zu einem Arbeitsmodell kommen, wie Handlungskoordination im Gehirn funktioniert. Damit können vielleicht in zehn Jahren einmal Forscher Studien nach dem klassischen Ablauf mit Modell, Hypothese und Design unternehmen."
Violinisten machen viel zu große Bewegungen
Auf der Suche nach geeigneten Beispielen für Handlungskoordination hatte der Direktor des Forschungsbereichs Entwicklungspsychologie Prof. Ulman Lindenberger die Idee, Musiker-Duette zu testen. "Es konnten aber nicht irgendwelche Duette sein", erklärte Frau Sänger. "Mit Violinisten wäre es schwierig, weil die viel zu große Bewegungen machen. Und Klaviere passen nicht in ein EEG-Labor." So kam man auf Gitarristen: "Die bewegen sich zwar auch, aber weniger." Zunächst führte dann Projektleiter Dr. Viktor Müller zwei Studien mit acht bzw. 13 Paaren durch. Jedem Musiker wurde eine Kappe mit 64 Elektroden – "Kanäle" – auf den Kopf gesetzt.
"In der ersten Duett-Studie wurden von den jeweiligen Paaren ganz unterschiedliche Melodien gespielt, erst in der zweiten Studie wurde dann immer das gleiche Musikstück verwendet, das sogar ein hiesiger Mitarbeiter mitkomponiert hat", berichtete die Psychologin. Es handelte sich dabei aber immer um Unisono-Stücke, was zu einem Kritikpunkt wurde: Wenn zwei Menschen die gleiche Musik spielen, warum sollen sich ihre Gehirne nicht auch synchronisieren? Zu einer dritten Duettstudie, diesmal mit 16 Paaren, kam Johanna Sänger in das Team von Dr. Müller, der inzwischen auch der Betreuer ihrer Doktorarbeit ist. Ihr war es ein Anliegen, dass die Musik im Test zweistimmig ist. "Das fand ich realitätsnäher", erklärte sie. Als nächstes wurde ein Stück im Barockstil gewählt, aber so bearbeitet, dass beide Stimmen gleichwertig waren. Daraus spielten die Musiker eine Passage von 20 Sekunden, abwechselnd als Melodie- und Begleitstimme. Zusätzlich zum EEG wurden diesmal auch die Atmung sowie das EKG der Probanden gemessen und die Bewegung ihrer Hände mit Bewegungssensoren aufgezeichnet.
"In unserer Forschung geht es nicht nur darum, was für neuronale Netzwerke sich innerhalb eines Gehirns ergeben, sondern vor allem auch darum, was für funktionelle Verbindungen zwischen den Gehirnen der interagierenden Personen entstehen. Dazu müssen wir zunächst mal eine Schwelle definieren, unter der wir Beziehungen zwischen zwei Hirnsignalen gar nicht erst als bedeutsam erachten. Schließlich bilden sich gerade innerhalb eines Gehirns viele zufällige Beziehungen zum Beispiel dadurch, dass das Gewebe Signale von einem Ort zum anderen weiterleitet – und diese interessieren uns ja nicht. Schon bei der Analyse einzelner Gehirne ist es also gar nicht so leicht, eine angemessene Schwelle zu finden, denn es gibt dafür keine feste Regel oder Vorgehensweise. Hinzu kommt bei uns: Verbindungen zwischen den Gehirnen sind natürlich viel geringer als die innerhalb eines Gehirns, denn es besteht ja kein physischer Kontakt. Das macht unser Vorhaben, nämlich beide Arten von Verbindungen über einer gemeinsamen Schwelle gleichzeitig zu betrachten, besonders kompliziert", erläuterte Johanna Sänger. "Bevor man sich die verschiedenen Köpfe anguckt, muss man erst einmal diese und viele andere Fragen stellen. Und wir müssen sie uns praktisch selber beantworten, weil solche Untersuchungen bisher kaum gemacht wurden."
Zwei Stunden schöne Gitarrenmusik im Labor
Obwohl die Messungen mit zwei zusammenarbeitenden Menschen schon kompliziert sind, wurde der Versuch nach den Duett-Studien sogar auf ein Quartett ausgedehnt. Drei der Gitarristinnen, die bei den Duetten mitgespielt haben, kamen vom "Cuarteto Apasionado" aus Berlin. "Die haben wir bei einer Probe besucht und dann als Ensemble eingeladen. Das war eine super-tolle Arbeit mit dem Quartett. Jeden fünften Freitag saß ich im Labor und habe mir zwei Stunden lang schöne Gitarrenmusik angehört", schwärmte die junge Forscherin. "Das hat mich auch überrascht, weil ich mich nie besonders für Gitarrenmusik interessiert habe. Ich dachte immer, die sei langweilig, aber das war sie überhaupt nicht!"
Insgesamt haben die Proben im Labor jeweils drei bis vier Stunden gedauert, mit Auf- und Abbau. "Das Quartett hat genauso geübt, wie es das normalerweise machen würde", beschrieb die Psychologin den Versuch. Anders als bei den Duett-Studien spielten die Musikerinnen keine 20-Sekunden-Passagen, sondern arbeiteten an zwei richtigen Stücken: "Ein Werk, das sie schon kannten und ein neues. Mit dem ersten Stück wollten wir nur untersuchen, was bei ihrem Zusammenspiel passiert. Da ging es also gar nicht um einen Lerneffekt." Die Gitarristinnen wurden weder in der Zeit noch im Ablauf eingeschränkt, sie konnten reden und sich bewegen wie sonst auch. "Für eine Laborstudie war das recht unstrukturiert, was die Analysen entsprechend schwer machen wird", räumte die Forscherin ein, "besonders bei der Frage, ob die Synchronisationseffekte stärker werden, wenn sie allmählich besser zusammenspielen."
Als Höhepunkt und Abschluss der Messungen hat das Max-Planck-Institut im Juni 2011 ein Laborkonzert veranstaltet. Dabei wurden nicht nur die vier Musikerinnen verkabelt, sondern auch vier Personen aus dem Publikum. Davon wiederum waren zwei Zuhörer musikalisch beschlagen und die anderen beiden nicht. Dabei entstand eine riesige Datenmenge: acht Personen mit jeweils 32 Hirnstrom-Kanälen plus EKG und Atmung. Da galt es auch technische Hürden zu überwinden: "Ein Rechner kann nur sechs Personen aufnehmen, also mussten wir mit zwei Geräten arbeiten. Das ist aber heikel, wenn man bedenkt, dass sich unsere Messungen im Milli-Sekunden-Bereich bewegen. Da kann die leicht asynchrone Aufzeichnung zweier Rechner schon eine Rolle spielen. Wenn wir die Daten zusammenfügen, müssen wir das also einkalkulieren.“
Wie lange das ganze Forschungsprojekt laufen wird, steht noch nicht fest. "Es gibt keinen festgelegten Zeitrahmen. Bis Ende dieses Jahres werden wir die Daten sichten. Dann müssen wir auswählen, welche wir davon auswerten. Die Datenerhebung war der kleinste Teil. Was jetzt folgt, ist anstrengender und langwieriger. Dabei sind natürlich vor allem die Versuchspersonen – also das Quartett – daran interessiert, was dabei rausgekommen ist. Sie fragen schon immer nach."
Eine Doktorarbeit mit Musik
"Musik ist mir sehr wichtig, sie ist in meinem Leben immer dagewesen", erklärte Johanna Sänger. "Meine Mutter ist sehr musikalisch. Obwohl aus einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet stammend, hatte auch sie als Kind schon eine Gitarre. Seit vielen Jahren ist sie begeisterte Chorsängerin und hat jetzt sogar angefangen, Klavierunterricht zu nehmen. So wie sie haben auch wir als Kinder viel gesungen, zu Hause, auf Autofahrten und natürlich im Kindergarten. Ich glaube, in keinem Kindergarten wurde so viel gesungen wie in meinem. Im dritten Jahr wurde ich 'Flötenkind', habe also Blockflöte gelernt, und bis zwölf Jahren Klavierunterricht genommen. Dann habe ich getanzt und tanze seit kurzem wieder, was ja ebenfalls mit Musik zu tun hat. Auch im Uni-Chor war ich eine Weile. Denn ich dachte, das muss man mal gemacht haben im Leben, so wie einen Baum pflanzen oder ein Haus bauen."
Im Singen meinte sie jedoch, sei sie nicht so gut. "Ganz im Gegensatz zu meiner Schwester, die hat Pop- und Jazzgesang studiert." Aber Cello würde sie gerne spielen: "Ich finde einfach, das Instrument hat einen sehr schönen Klang." Der Kontakt zu Musik sei bei ihr also Gewohnheit, aber immer auch ein Bedürfnis. Deshalb hat sie sich auch für das Projekt des Max-Planck-Instituts in Berlin beworben. "Und zum Glück wurde ich angenommen", freut sich Johanna Sänger noch immer.
Nun ist ihre Doktorarbeit ein Teil des Forschungsprojekts. "Dabei kann ich gar nicht alle Daten verwerten, sonst würde ich in 15 Jahren noch daran sitzen. Aber ich werde Aspekte davon für meine Dissertation nutzen. Zum Beispiel greife ich auf Daten zurück, die wir mit den Duetten und dem Quartett gesammelt haben", sagte Johanna Sänger. "Eine Doktorarbeit mit Musik hat ja auch einen gewissen Charme. Viele Studien auf dem Gebiet der Handlungskoordination werden zum Beispiel mit Handbewegungsimitationen gemacht. Aber Musik ist einfach das schönere Beispiel", meinte sie. "Weil es eben Musik ist."
(Von Wieland Aschinger)