New York – Auf Alan Gilberts Schreibtisch steht ein kleiner Briefbeschwerer: ein paar Wolkenkratzer der berühmten Skyline, davor die grüne Freiheitsstatue. Noch könnte der Dirigent der New Yorker Philharmoniker in ein Taxi steigen und zur Südspitze Manhattans fahren, um Lady Liberty zu betrachten. Doch Gilbert gibt den Posten auf, am (heutigen) Samstag gibt er sein letztes Konzert. Nach dem Umzug mit Frau und Kindern nach Stockholm wird der Briefbeschwerer ein Andenken sein an die Stadt, die ihm musikalisch ein Zuhause gab. Mit der Deutschen Presse-Agentur spricht Gilbert über seine Handschrift, den Mut, Risiken einzugehen, und die Wertschätzung von Musik in Deutschland.
Frage: Herr Gilbert, Sie sind hier in der Nähe an der Upper West Side aufgewachsen, Ihre Eltern waren beide Violinisten bei den New Yorker Philharmonikern, dann wurden Sie als erster gebürtiger New Yorker deren Chefdirigent. Wie sehr ist dieses Orchester Ihr Zuhause?
Antwort: Wenn man ein neues Orchester dirigiert, ist es ein bisschen wie auf einem Blind Date. Man muss sehen, ob die Chemie da ist. Als ich die New Yorker Philharmoniker zum ersten Mal dirigierte, fühlte ich mich total zu Hause. Und das war ungewöhnlich, weil ich vorher nicht so viele Top-Orchester dirigiert hatte.
Frage: Wie schwer fällt es Ihnen, nun Abschied zu nehmen?
Antwort: Ich habe acht Jahre hart gearbeitet, es hat mir Spaß gemacht und ich bereue nichts. Ich bin froh über das, was wir getan haben, und es tut mir ein bisschen leid, dass wir einige Dinge, auf die ich gehofft hatte, nicht getan haben. Aber das ist in Ordnung.
Frage: Welche Handschrift haben Sie nach acht Jahren hinterlassen?
Antwort: Ich habe versucht, eine Haltung des Experimentierens und der Offenheit zu verschiedenen Musikarten zu fördern, aber auch verschiedene Arten, Musik zu präsentieren – ein Abschied vom traditionellen Konzert-Format, Verschiebungen darin, was von Musikern verlangt wird, um sie aus ihrer traditionellen Rolle als einfache Instrumentalisten zu nehmen und Teil des Dramas werden zu lassen. Ich wollte Regeln abbauen und denke, das ist uns gelungen.
Frage: Zugleich wurden einige Ihrer Pläne, etwa die Reihe "Contact!" für neue Musik, eingedampft. War die Philharmonie zu altmodisch?
Antwort: Veränderung ist unter allen Bedingungen schwierig. Die New Yorker Philharmonie ist eine sehr große Institution, und es ist schwer, den Kurs zu wechseln. Andererseits: Einige Dinge lohnt es sich zu bezahlen und zu riskieren. Manchmal hätte ich mir etwas mehr Risikofreude gewünscht.
Frage: Ein großes Risiko ist auch die geplante Renovierung der David Geffen Hall, der Spielstätte der Philharmoniker, ab 2019.
Antwort: In dieser Zeit müssen sie herausfinden, wo sie spielen, wie sie die Harmonie mit ihrem Publikum halten und was aus dem ganzen Abo-Modell werden soll, das schon schwer verwässert ist im Vergleich zu dem, was es mal war. Sie werden Neues ausprobieren müssen.
Frage: Ist Ihr Nachfolger Jaap van Zweden dieser Aufgabe gewachsen?
Antwort: Ich habe eine Menge Respekt vor Jaap. Er ist ein extrem charismatischer, unwiderstehlicher Musiker. Er hat einen großen Hunger auf harte Arbeit und verkörpert sehr hohe Standards. Ich glaube, das Orchester ist in guten Händen. Ich vermute, dass er eine Menge Ideen hat.
Frage: Was zeichnet einen Dirigenten von Weltrang eigentlich aus?
Antwort: Was ich meinen Studenten an der Juilliard School beibringe, ist eine Art 360-Grad-Bewusstsein darüber, was nicht nur in der Musik und den Musikern vor dir passiert, sondern sogar eine Art Verbindung mit dem Raum hinter dir. Erfolgreiche Dirigenten haben eine Präsenz, die sich panoramaartig anfühlt.
Frage: Was spüren Sie an der Verbindung zum Publikum in New York?
Antwort: Es ist schwer zu beschreiben. Die Menschen interessieren sich für eine Menge Dinge. Manchmal bin ich nicht sicher, wofür sie kommen – vielleicht für das Programm, vielleicht für den Dirigenten, vielleicht für den Solisten. Vielleicht brauchen sie einfach einen Abend unterwegs. Ich habe versucht, eine Beziehung mit dem Publikum aufzubauen, damit sie die Reise teilen, auf die wir uns begeben.
Frage: Wie unterscheidet es sich von Zuschauern in Deutschland?
Antwort: Ich dirigiere sehr viel in Deutschland, und ich liebe die musikalische Atmosphäre dort. Es ist einer der Orte, an denen ich mich musikalisch am meisten zu Hause fühle. Der Geist der Verehrung und die Wertschätzung der Kunst ist einfach sehr speziell. Es ist ein wundervoller Ort.
(Interview: Johannes Schmitt-Tegge, dpa)
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