Musiktheater "molto agitato" als Reflexion über Gewalt und Lust an Machtausübung

06. September 2020 - 12:30 Uhr

Hamburg (dpa/MH) – Alles bleibt anders. Statt wie ursprünglich geplant mit Mussorgskis "Boris Godunow" hat die Staatsoper Hamburg nach fast einem halben Jahr Zwangspause die neue Saison mit einem selbst zusammengestellten Programm eingeläutet. Unter der Überschrift "molto agitato" (italienisch für "stark bewegt") konfrontierte Regisseur Frank Castorf das Premierenpublikum am Samstag Abend mit bestürzenden Bildern von Gewalt und Lust an der Machtausübung. Sektlaune, musikalische Opulenz? Dieser Abend rückte selbst die Erinnerung daran in weite Ferne.

"molto agitato"

"molto agitato"

Vom Barock bis in die 1960er Jahre reichte der musikalische Bogen, von Händel bis Ligeti. Das Programm umfasste nicht nur Musiktheater, sondern auch die Vier Gesänge von Brahms, der gar keine Oper geschrieben hat.

Der innere Zusammenhalt der Collage wird über das Bühnengeschehen sichtbar. Es geht roh zu. Ob antike Mythologie oder Horrorszenen, Castorf und sein Team sexualisieren das Äußere der Frauen wie so oft bis zur Unkenntlichkeit mit weißblonden Perücken, Paillettenglitzer, Netzstrümpfen. Und wie so oft bei Castorf ist eine Kamera dabei und heftet ihren Blick mal minutenlang auf den blutrot geschminkten Mund der Sopranistin Katharina Konradi, mal folgt sie den Beteiligten in die Tiefe des Bühnenraums. Dass die oft aus der Entfernung singen, macht die Abstimmung mit dem Orchester nicht gerade leichter.

Herz der Produktion ist eine Folterszene aus dem Debütfilm "Reservoir Dogs" von Quentin Tarantino. Die Schauspielerin Valery Tscheplanova und der Bariton Georg Nigl spielen die Filmszene dann auch noch nach, wobei Nigl mit einem Wiener Dialekt von einer derart brutalen Vulgarität brilliert, als wäre das Rotlichtmilieu sein angestammtes Umfeld.

Die USA und besonders die Flagge mit den berühmten Stars and Stripes sind beinahe obsessiv präsent. Die furiose Tscheplanova, in Latex und auf Highheels im körperlichen Dauereinsatz, schwenkt die Fahne, wickelt sich in sie ein, thront am Ende vor einer Lichtinstallation. Mit rauem Schauspielerinnentimbre singt sie die Anna, die in Weills "Sieben Todsünden" ihr Glück in Amerika sucht, während die vier Sänger nur ein paar Ensembles beisteuern.

Bis dahin ist es längst klar: Castorf trägt so dick auf, weil er sich gerade in der Brechung mit den Schwachen und Verlierern solidarisiert. Wie sehr die Corona-Pandemie das kollektive Leben verändert hat, muss er nicht erst zum Thema machen. Es spricht aus dem kahlen Bühnenraum. Aus dem Abstand zwischen den Sängern an der Rampe. Aus der Blicklosigkeit, wenn sie ganz hinten in einer Art Künstlergarderobe hocken – was das Publikum nur im Video sehen kann.

Trotz der drastischen Bilder atmet das Ganze eine tiefe Melancholie. Auch das winzig besetzte Philharmonische Staatsorchester klingt unter der Leitung von Generalmusikdirektor Kent Nagano entrückt, selbst noch in der Weill-Besetzung mit Blech und Schlagzeug. Saal, Bühne – alles drei Nummern zu groß. Freundlicher Beifall aus den schütter besetzten Publikumsreihen. So ist sie, die neue Realität.

(Von Julia Tann, dpa)

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(dpa/MH)

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