Dresden – Dirigent Hartmut Haenchen hält nichts von Turbokarrieren junger Musiker. "Auf lange Sicht geht auf diese Weise viel Potenzial verloren", sagte der Künstler kurz vor seinem 75. Geburtstag (21. März). Im Interview der Deutschen Presse-Agentur sprach er auch über seine Anfangszeit in Amsterdam und schöne Säle.
Frage: Verlaufen Dirigenten-Karrieren heute anders als zu Ihren Zeiten?
Antwort: Ja. Das fängt schon damit an, dass viele heute die Werke mit CD lernen, also dem Hören nach. Ich habe anhand der Partituren gelernt, wie etwas zu klingen hat. In der modernen Medienwelt werden manche junge Dirigenten schnell nach oben geschossen. Dort hängen sie oft im luftleeren Raum. Manche verschwinden auch wieder, ohne dass man es bemerkt. Das betrifft auch Sänger und Instrumentalisten. Ich finde diese Entwicklung beängstigend.
Frage: Was ist Ihre Sorge?
Antwort: Auf lange Sicht geht auf diese Weise viel Potenzial verloren. Junge Leute werden vor ihrem Zenit verbrannt. Weg von der Bildfläche, folgt schon der Nächste. Das ist keine gute Entwicklung. Auch in der Kunst leben wir in einer Wegwerfgesellschaft. Unter Dirigenten gibt es immer mehr Selbstdarsteller. Sie vergessen, dass sie eigentlich nur Diener der Komponisten sind. Wenn ein junger Dirigent als erste Mahler-Sinfonie gleich die Zehnte dirigiert, halte ich das für vermessen.
Frage: Lässt sich diese Entwicklung noch umkehren?
Antwort: Ich hoffe, dass sich am Ende Qualität durchsetzt. Und dass viele im Publikum das auch noch wahrnehmen können. Um ein solches Urteilsvermögen zu erlangen, braucht man selbst eine gute Bildung. Das fängt schon in der Schule an. Deshalb sind Debatten um eine Kürzung des Musikunterrichtes wie jetzt in Sachsen fehl am Platz.
Frage: Welchem Orchester fühlen Sie sich besonders verbunden?
Antwort: Das Gewandhausorchester Leipzig hat eine ganz eigene Atmosphäre. Da kommt einem etwas Warmes, Familiäres entgegen. Ähnlich ist das beim Stuttgarter Staatsorchester. Viele deutsche Orchester errichten erstmal eine Mauer vor neuen Dirigenten. In Skandinavien stehen mir das Royal Stockholm Philharmonic Orchestra und die Königliche Kapelle Kopenhagen sehr nahe. Natürlich trifft das auch auf mein früheres Orchester in Amsterdam zu – die Niederländische Philharmonie.
Frage: Haben Sie einen Lieblingssaal?
Antwort: Das Concertgebouw in Amsterdam. Dort habe ich etwa 750 Konzerte dirigiert. Wenn man aus Amsterdam kommt, ist jeder andere Saal erst einmal eine Enttäuschung, selbst der Musikverein in Wien. An zweiter Stelle steht bei mir die Suntory Hall in Tokio.
Frage: Sie sind Ehrenbürger von Amsterdam, zudem wurde Ihnen ehrenhalber die niederländische Staatsbürgerschaft verliehen. Wie wichtig sind Ihnen solche Auszeichnungen?
Antwort: Vielleicht habe ich ein Stück dazu beitragen können, das Bild der Deutschen in den Niederlanden zu korrigieren. Ich stand dort in der Öffentlichkeit. Am Anfang war es schwierig. Die größte Zeitung schrieb damals, ob man es nötig habe, dass ein Deutscher so wichtige Positionen im Musikleben einnimmt. Zudem wohnten wir in Amsterdam in einer Gegend, in der viele aus Deutschland ausgewanderte Juden lebten. Viele wollten mit uns anfangs nichts zu tun haben. Als ich zum Ritter im Orden vom Niederländischen Löwen ernannt wurde, änderte sich das. Seither waren wir für unsere Nachbarn Niederländer.
Frage: Wieviel Routine ist dabei, wenn Sie heute auf die Bühne gehen?
Antwort: Routine ist nicht das richtige Wort. Richard Strauss hat gesagt, dass er erst mit 70 feststellte, wie schwer das Dirigieren eigentlich ist. Ich liebe den Titel Kapellmeister. Er umschreibt die Tätigkeit so, wie ich sie mir vorstelle. Mein Instrument ist das Orchester. Auf dem muss ich spielen können. Das gelingt aber nur, wenn ich die Musiker überzeugen kann. Überzeugungsarbeit ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Das Lampenfieber freilich wird immer schlimmer. Auch wenn man ein Stück schon zehn Mal gemacht hat. Man sollte sich immer selbst hinterfragen. Eigentlich ist in meinem ganzen Dirigentenleben der Zweifel meine Triebfeder gewesen.
Frage: Wer hat Sie dabei unterstützt?
Antwort: Das waren Musikwissenschaftler und Dirigentenkollegen. Wobei viele Dirigenten nicht wirklich miteinander kommunizieren. Das liegt aber in der Natur der Sache. Wenn ich bei irgendeinem Orchester gastiere, ist der Chefdirigent nicht da, weil er selbst anderswo gastiert. So sehen sich Dirigenten relativ selten. Doch mit einigen habe ich mich gut ausgetauscht, beispielsweise mit Kurt Masur, Günther Herbig oder Kurt Sanderling. Meine Frau, die ja selbst Orchestermusikerin ist, war anfangs meine größte Kritikerin.
Frage: Hat sich Ihr Dirigierstil über all die Jahre verändert?
Antwort: Man wird effektiver. Die Kunst besteht auch darin, Dinge wegzulassen – ohne schlechter zu werden. Auf alles Überflüssige verzichten und auf das Wesentliche reduzieren, lautet die Devise.
(Interview: Jörg Schurig, dpa)
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