Carlos Kleiber – Spuren ins Nichts

25. Mai 2014 - 10:01 Uhr

Sonntag, 25. Mai 2014 / 02:05 – 03:00 Uhr
ARTE

Dokumentation (Deutschland/Slowenien/Österreich 2010) Vom "BBC Music Magazine" wurde er einst zum größten Dirigenten aller Zeiten gewählt: Carlos Kleiber bleibt womöglich das geheimnisvollste Genie, das je einen Taktstock in der Hand hielt. Ein Jahrhundertdirigent, dessen Name in einem Atemzug mit Karajan oder Furtwängler fällt. Ein Mann, der die Musikwelt beglückte und der sich der Öffentlichkeit zugleich entzog, wo immer es ging.

Carlos Kleiber

Carlos Kleiber

Filmemacher Eric Schulz konfrontiert Freunde und Wegbegleiter mit raren Filmausschnitten, die den 2004 verstorbenen Carlos Kleiber bei der Ausübung seines Berufs zeigen. Der ECHO-prämierte Film macht die Faszination, die Kleiber auf seine Zeitgenossen ausübte, begreifbar.

Kleibers Aufführungen setzten Maßstäbe. Fantasievoll und in jedem Moment zwingend, entfaltete sich die Musik stets wie ein lebendiger Organismus voller ungehörter Nuancen. Unvergleichlich die Art, wie er dirigierte. Seine ausholenden Bewegungen, das Schwingen des Körpers bei gleichzeitig höchster Präzision: Hier war sie für alle spürbar, die so oft beschworene Magie des Dirigenten. Zusehends enthielt der 1930 geborene Kleiber seine Kunst dem Publikum jedoch vor – immer schwieriger wurde es, ihn zu Auftritten zu bewegen. Die Karajan zugeschriebene Bemerkung, Kleiber dirigiere nur, wenn der Kühlschrank leer sei, trifft nicht den Kern.

Carlos Kleiber war ein Mensch voller Selbstzweifel, dem es letztlich immer größere psychische und körperliche Mühen bereitete, seine künstlerischen Vorstellungen umzusetzen. Kleiber war früh zum Weltbürger geworden, der später sechs Sprachen fließend sprechen sollte. Mit seinem Vater, dem Dirigenten Erich Kleiber, ging er auf der Flucht vor den Nazis nach Argentinien, wo aus Karl Ludwig Bonifacius schlicht Carlos wurde. Später kehrte Carlos Kleiber nach Europa zurück, wurde in den späten 60ern mit der musikalischen Leitung beim Stuttgarter "Freischütz" endgültig zum Star. Sein letzter Wohnort lag in Slowenien, dort starb er auch im Jahr 2004, kurz nachdem seine langjährige Ehefrau gestorben war. Die genauen Umstände seines Todes liegen im Dunkeln – er war von Krebs gezeichnet, sein Leben aber nicht akut bedroht. Das Wort Selbstmord ist selten zu lesen. Sicher ist: Kleiber hatte abgeschlossen mit dem Leben.

In einer Umfrage unter 100 derzeit führenden Dirigenten versuchte das "BBC Music Magazine" vor einigen Jahren herauszufinden, wer die 20 größten Dirigenten aller Zeiten seien. Dabei wurde Carlos Kleiber auf den ersten Platz vor Leonard Bernstein gewählt.

Der Dokumentation gelingt es, die von Kleiber ausgehende Faszination beim Fernsehzuschauer wachzurufen. Sie konfrontiert Kollegen und Zeitgenossen, unter ihnen Plácido Domingo, mit Proben- oder Konzert-Aufnahmen Kleibers und versetzt sie damit in vergangene Zeiten. So entstand ein Film voll lebendiger Erinnerung, bei dem die Person Kleiber wie durch ein Kaleidoskop gebrochen in all ihren Facetten hell aufscheint. Was den Konzertgängern damals vorenthalten war, der Blick auf das Gesicht von Carlos Kleiber, rückt Eric Schulz immer wieder in den Mittelpunkt, indem er die verrauschten Bilder der Dirigentenkamera aus dem Orchestergraben nicht aussortiert, sondern zur Betrachtung freigibt: Zu sehen ist das Gesicht eines Menschen in glückhafter Entrückung.

(pt/wa)

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