Berlin (MH) – Die Violinistin Patricia Kopatchinskaja ist für ihre eigenwilligen musikalischen Interpretationen bekannt. Am (heutigen) Freitagabend führt sie mit den Berliner Philharmonikern unter Leitung von Chefdirigent Sir Simon Rattle György Ligetis "Konzert für Violine und Orchester" auf. Im Interview der Nachrichtenagentur MUSIK HEUTE sprach die 1977 in Moldawien geborene Künstlerin über Bilder, die das Stück des 2006 verstorbenen ungarischen Komponisten in ihrem Kopf entstehen lässt.
Frage: Was macht für Sie den besonderen Reiz dieses Werks aus?
Antwort: Ich liebe das Konzert von Herzen und amüsiere mich jedes Mal, wenn ich es spielen darf. Es kommt mir vor wie ein riesiges, kompliziertes Lego-Spiel eines genialen Kindes, das darin mittelalterliche Türme baut, ungarische Insekten in Form eines Hoquetus tanzen lässt und spezielle Harmonien konstruiert. Lustig ist noch, dass Ligeti es den Solisten überlässt, die Kadenz zu schreiben. Das ist eine große Seltenheit in der modernen Musik, wo normalerweise alles penibel vorgeschrieben ist. Die Solokadenz kommt am Schluss, und ich trage in dem Moment viel Verantwortung. Das führt allerdings auch zu einem Verwirrspiel zwischen mir und dem Dirigenten.
Frage: Der Komponist sagt über sein Konzert, er habe "eine unpräzise Intonation und einen schmutzigen Klang" gesucht. Wie reagieren Sie darauf?
Antwort: Als Kind hat Ligeti immer neue Länder mit eigenen Sprachen und Schriften erfunden. Sein Vater, der in einer Bank arbeitete, schrieb ein Buch über eine utopische Welt, in der man kein Geld brauchte. Auch das Violinkonzert erscheint mir als Fantasieland. Die Mikrotonalität ist die Sprache einer fremdartigen Welt, in der man exotische Schönheit sucht. Die Holzbläser musizieren teils auf Okarinas, die vor Tausenden von Jahren erfunden wurden. Die Schlagzeuger bearbeiten asiatische Lotusflöten. Die Streicher spielen Flageolett-Töne und verwenden Skordaturen. Man taucht in diese Musik ein und hört plötzlich etwas Neues, das man nicht ganz versteht. In der Partitur steht, dass die Naturhörner und Okarinas ihre Intonation nicht korrigieren dürfen. Die schnellen Oberton-Girlanden der Geige lassen sich in den verrückten Tempi kaum kontrolliert spielen. So entsteht jedes Mal ein anderes verschwommenes, traumhaftes Gewebe, das aus der Vergangenheit und vielleicht sogar von einem anderen Planeten stammen könnte.
Frage: Welche Rolle spielt für Sie moderne und zeitgenössische Musik aus Ungarn?
Antwort: Von den wichtigsten Komponisten des letzten Jahrhunderts und der heutigen Zeit kommen auffallend viele aus Ungarn, das nicht so weit von meiner Heimat Moldawien entfernt liegt – etwa Bartók, Kodály, Veress, Kurtág, Ligeti und Eötvös. Mit ihnen verbindet mich die Liebe zur Folklore, ein brennend starkes Heimatgefühl und zugleich das Schicksal, dass wir unser geliebtes Land verlassen mussten.
Frage: Bei Ihrem Debüt mit den Berliner Philharmonikern im September 2014 stand das Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 von Peter Eötvös auf dem Programm. Was bedeutet Ihnen die Zusammenarbeit mit den Philharmonikern?
Antwort: Es ist ein großes Privileg, mit diesem unglaublichen Orchester zu spielen, Musik auf höchstem Niveau zu erleben, gemeinsam alles zu geben und voneinander zu lernen. So bleibt man dem Stück, das man aufführt, nichts mehr schuldig.
(Interview: Corina Kolbe, MUSIK HEUTE)
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