Solistenensemble Kaleidoskop: "Wir halten uns selber zusammen" – Neues Projekt als Hommage an Xenakis

27. Juni 2011 - 15:25 Uhr

In seinem fünften Jahr geht das Solistenensemble Kaleidoskop auf die Straßen und Plätze der Stadt. "XI – ein Polytop für Iannis Xenakis" ist eine Hommage an den Komponisten zu dessen zehntem Todestag. Während der Proben für das zweitägige Projekt traf "musik heute" den künstlerischen Leiter des Ensembles, Michael Rauter (Cello) und die Geigerin Daniella Strasfogel, die bei "Kaleidoskop" für die Programmgestaltung zuständig ist.

In dem Interview schilderten sie die Entstehung und Zusammensetzung des Ensembles. Außerdem erläuterten sie ihr aktuelles Projekt, das sie am 1. und 2. Juli 2011 in Berlin aufführen. "XI – ein Polytop für Iannis Xenakis" besteht aus drei Teilen. Es beginnt am 1. Juli um 20:00 Uhr mit einem Konzert im Kammermusiksaal der Philharmonie. Am 2. Juli geht es mit Performances 10:00 und 19:00 Uhr in der Stadt weiter. Um 20:30 Uhr findet zum Abschluss ein "Ringpolytop" auf dem Gleisdreieck statt, bei dem 15 Musiker in der Stadt verteilt über Lautsprecher zu hören sind.

(Foto: Adam Berry)

musik heute: Ihr seid ein Kammerorchester, nennt Euch aber Solistenensemble. Wie hält man 14 Solistenpersönlichkeiten zusammen?

Michael Rauter: Die halten sich selber zusammen. Die Gruppe ist ziemlich speziell. Alle bringen zwar diese Qualitäten mit, in jeder Konstellation spielen zu können. Trotzdem begreifen sie sich als Teil einer Gruppe. Jeder kann immer das abrufen, was in einem bestimmten Moment gebraucht wird. Das sind alles keine Leute, die sich unbedingt in den Vordergrund spielen müssen. Und ich glaube, das ist schon der Charakter.

Daniella Strasfogel: Für mich wird es mit jedem Projekt klarer, dass der Name "Solistenensemble" tatsächlich passt. Jeder einzelne Musiker ist wirklich alleine einsetzbar spielt aber auch gerne im Ensemble. Es haben alle diese verschiedenen Facetten, die – wie Michael sagt – abrufbar sind. Dadurch haben wir beim Erstellen unserer Programme auch großen Spaß.

Michael Rauter

Michael Rauter: Das war auch die Idee bei unserer Gründung: wir wollten ein Ensemble haben, das diese Flexibilität bietet. Weil uns die Musik diesen Spaß macht, wollten wir für unsere Besetzung auf kein Repertoire verzichten.

musik heute: Euer Schwerpunkt liegt auf zeitgenössischer Musik, aber Ihr spielt sie im wesentlichen auf klassischen Instrumenten. Lasst Ihr moderne Instrumente bewusst außen vor?

Michael Rauter: Ob Musik modern ist, hängt nicht in erster Linie vom Instrumentarium ab. Ich finde sogar, dass viele Ensembles, die historische Aufführungspraxis praktizieren, musikalisch moderner sind, als Ensembles mit "moderneren" Instrumenten.

Daniella Strasfogel

Daniella Strasfogel: Ich würde die Musik auch nicht "modern" oder "klassisch" nennen, sondern von "aktuell" bzw. "historisch" sprechen. Denn – wie Michael meint – viele ganz hervorragende Ensembles, die alte Instrumente spielen, machen das auf eine aktuelle Art, anders als die historische Aufführungspraxis von vor dreißig Jahren. Unsere Instrumente haben sich in den letzten 200, 300 Jahren einfach nicht sehr verändert. Eine moderne Geige sieht zum Beispiel nicht viel anders aus als eine Barockgeige. Mit diesen Instrumenten kann man alle mögliche Musik machen. Und die aktuellste Musik wird immer noch für diese sehr traditionellen Instrumente geschrieben.

Michael Rauter: In der Popmusik ist übrigens gerade wieder ein ganz starkes Bedürfnis nach akustischen Instrumenten zu beobachten. Vor ein paar Tagen auf dem Sónar Festival, dem wichtigsten elektronischen Popmusikfestival in Europa, traten als Hauptacts Ensembles auf, die akustische Instrumente spielen. Da war zum Beispiel das Steve-Reich-Ensembles und hat "Music for 18 Musicians" gespielt – und das auf einem elektronischen Musikfestival! Das ist wie eine Art Retrobewegung in der elektronischen Musik.

Allein dadurch, dass man eine E-Gitarre oder E-Geige spielt, wird die Musik an sich nicht moderner. Wobei wir auch total offen sind, sowas zu machen. Gerade haben wir bei den Kunstfestspielen Herrenhausen Teile des Händel-Oratoriums "Semele" gespielt und Improvisationsteile mit verstärkten Streichinstrumenten eingefügt. Und jetzt bei dem Projekt "XI" werden wir auf der Straße mit Pick-Ups spielen. Da hat jeder seinen eigenen Verstärker dabei und klanglich veränderte Streichinstrumente.

Auch da ist unser Hauptprinzip wieder die Lust. Natürlich muss man immer irgendwelche Begriffe dafür finden. Aber letztendlich ist das Entscheidende für uns: Gefällt uns die Musik, macht sie uns Spaß? Können wir uns dafür begeistern? Dann können wir auch andere Leute dafür begeistern.

musik heute: Eure Plakate sind sehr auffällig. Zum Beispiel der Kopf von Arnold Schönberg auf den Körper eines weiblichen Models montiert. Wer macht diese Plakate?

"gefährlich" gut

Daniella Strasfogel: Die frühen Werke waren alle von Michael Rauter mit Julian Kuerti zusammen, unserem ehemaligen Dirigenten. In den ersten zwei Jahren hatten wir einen Dirigenten, der das Ensemble mit Michael zusammen gegründet hat. Und die haben das zusammengemacht.

Michael Rauter: Am Anfang hatten wir ja auch keine Mittel, um andere Leute zu fragen. Es ging uns erst einmal darum, den Saal vollzukriegen, ohne Rücksicht auf Verluste. Also haben wir uns umgeschaut, wie Werbung so gemacht wird. Dabei fiel uns auf, dass in den Kneipen die Karten mit den leichtbekleideten Frauen am schnellsten weggehen. Also haben wir den Kopf von Schönberg einfach auf ein solches Modell gesetzt. Und es hat funktioniert.

Damit einfach anzufangen hat uns sicher geholfen. Grundsätzlich soll sich in den Plakaten widerspiegeln, was wir machen. Das Publikum soll überrascht werden. Wer uns inzwischen kennt, weiß nur, dass er mit irgendeiner Überraschung zu rechnen hat und dass es beim nächsten Mal wieder ganz anders wird. Damit zu spielen, ist auch für uns selber ein Spaß.

Mittlerweile werden unsere Plakate natürlich von professionellen Grafikern und Künstlern gestaltet. Es gab verschiedene Leute, auch da bemühen wir uns um eine große Variabilität. Dieses Mal ist es die Agentur "Anschläge" aus Berlin.

musik heute: Wie ist die Idee zum neuen Projekt der Polytope entstanden?

auf den Straßen Berlins

Daniella Strasfogel: Das kam aus einer gemeinsamen Liebe zu Iannis Xenakis. Der hat einfach so tolle Streichermusik geschrieben. Da haben wir überlegt, was wir zu seinem 10. Todestag 2011 machen könnten. Ein Porträt kam für uns nicht in Frage. Wir haben uns den Menschen Xenakis angeguckt, seine Arbeit als Komponist, aber auch als Architekt und sein ganzes Leben, seine frühe Kriegserfahrung, seine Flucht aus Griechenland. Wir wollten ein Projekt bauen, das nicht nur die Musik von Xenakis wiedergibt, sondern eine Idee von diesem Menschen, unsere Idee von diesem Menschen.

Michael Rauter: Wir haben gemerkt, dass gerade diese Idee der Polytope viel von dem zusammenfasst, was auch wir in unseren Projekten anstreben. Seine Polytope waren nicht nur rein musikalische Kompositionen. Xenakis ging es wirklich darum, ein Spektakel aufzumachen. Manche dieser Polytope haben im öffentlichen Raum stattgefunden. Er hat Kinderchöre, Tierherden, Licht und die Natur selbst mit einbezogen. Das hat uns total fasziniert. Denn auch für uns ist ein Konzert nicht allein die Musik, sondern der Raum, in dem sie stattfindet.

Diese Polytop-Idee verband sich mit unseren Gedanken: Welche Rolle spielt ein klassisches Musikensemble in der Stadt? Was ist die Landschaft, in der wir uns bewegen? Und was passiert eigentlich, wenn wir aus dem Konzertsaal rausgehen? Worauf treffen wir da oder verschwinden wir einfach? Es war auch die Lust, sich dem einfach mal auszusetzen, das Risiko einzugehen, eventuell im Gewirr der Stadt unterzugehen. Aber das ist das, womit man rechnen muss, wenn man sich so einer Situation aussetzt.

Daniella Strasfogel: Die Frage war auch, wie wir den Alltag der Stadt und unseren Alltag als Bewohner dieser Stadt mit unserer Arbeit, also unserer Musik, kombinieren können. Wir versuchen eigentlich ständig, Konzerte oder Produktionen zu machen, die auch unseren Alltag widerspiegeln. Deshalb grenzen wir auch Popmusik nicht aus und errichten keine Barriere zwischen aktueller und alter Musik.

musik heute: In dem Programm "XI" gibt es drei Auftragswerke. Was für Stücke sind das?

14 Streicher

Michael Rauter: Josiah Oberholzer ist ein sehr junger amerikanischer Komponist. Letztes Jahr haben wir ein kleineres Stück von ihm gespielt, das uns sehr begeistert hat. Daraus hat er uns eine Version für 22 Streicher geschrieben, worüber wir uns sehr gefreut haben. Das zweite Stück ist von Sebastian Claren, einem in Berlin lebenden Komponisten. Eigentlich hat er dieses Stück zu unserem 5. Geburtstag in diesem Jahr geschrieben. Für diesen Anlass hatten wir mehrere Komponisten angesprochen und nach einem kleinen Stück gefragt. Er hat daraus ein etwas größeres Werk gemacht, das wir in unser Konzertprogramm reingenommen haben. Denn wir fanden, dass es sehr gut in den Kontext mit Xenakis passt. Das Stück beschäftigt sich nur mit Glissandi, die ja für Xenakis ein sehr wichtiges musikalisches Element waren. Der letzte Teil des Projekts ist eine Uraufführung von Georg Nussbaumer, eine Komposition für 15 Autos, Blaskapelle und 15 unsichtbare bzw. in der Stadt verteilte Musiker.

musik heute: Wie probt Ihr so etwas – 15 in der Stadt verteilte Musiker?

Konzertperformance "XI"

Daniella Strasfogel: Wir haben es gerade eben geprobt. Zuerst proben alle zusammen, um die Partitur von Georg kennenzulernen. Dann gibt es verschiedene technische Details, die Musiker sind per Handy mit diesen Autos auf dem Gleisdreieck verbunden. Das muss natürlich getestet werden, ob diese Verbindung klappt.

Michael Rauter: Der ganze Probenprozess läuft in Modulen ab. Denn so, wie es am Ende abläuft, wird es wirklich nur in der Vorstellung stattfinden. Bei diesen Konzerte, die wir in öffentlichen Plätzen machen, proben wir zwar, was wir dort vor Ort spielen werden, die Aufstellung und die Bewegung. Aber wir können es nicht an jedem Ort proben. Wir besichtigen diese Orte zwar. Aber in der Performance muss das jeder Musiker selbst mit dem Erprobten zusammensetzen. Das fordert von allen Musikern extrem viel Mitdenken, Selbständigkeit und Wachsamkeit in den Proben, damit am Ende all diese Puzzleteile zusammenpassen. Das ist sehr komplex und erfordert viele Leute in der Organisation.

musik heute: Wie viele Personen sind daran beteiligt?

Daniella Strasfogel: Den Kern des Organisationsteams bilden sieben Personen. Davon hat aber jeder noch Assistenten und Helfer. Insgesamt sind es bestimmt 20 oder 30 Leute, die das organisieren. Dazu kommen 22 Musiker, der Dirigent und die Komponisten. Dann gibt es die Autofahrer, die Blaskapelle, die Parcourläufer, ein paar Schauspieler und so weiter.

musik heute: Wenn man ein klassisches Stück einstudiert hat, kann dann damit jahrelang und weltweit touren. Ihr macht Euch den ganzen Aufwand für eine einmalige Aufführung.

(Foto: Sonja Müller)

Michael Rauter: Natürlich würde es uns auch freuen, wenn uns hinterher jemand einlädt, das Projekt noch mal woanders zu spielen. Wobei diese Stücke an jedem Ort auch anders sind. Früher war ein Konzert ein wirkliches Ereignis, aber heutzutage hört man überall Musik. Ich glaube, dadurch gewinnt eine Veranstaltung, die eine gewisse Exklusivität hat, an Bedeutung. Weil sie nicht so leicht reproduzierbar ist, kann man sie nur da erleben. Das ist ja auch eine Verbindung zu Iannis Xenakis' Polytopen. Das waren Veranstaltungen, die er für einen speziellen Ort und Anlass kreiert hat. Er hat sie in einem gewissen Zeitrahmen aufgeführt und danach nicht mehr.

musik heute: Wir sind auf Eure Polytope gespannt. Vielen Dank für das Gespräch.

(Die Fragen stellte Wieland Aschinger.)

http://www.kaleidoskopmusik.de/
http://www.xi11.de/

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