Frankfurter "Wozzeck" als blutiger Fänger im Roggen

27. Juni 2016 - 13:14 Uhr

Frankfurt am Main (MH) – Die Oper Frankfurt zeigte in ihrer letzten Saisonpremiere im Großen Haus Alban Bergs atonal durchsetzte Schlüsseloper "Wozzeck". Dabei gelang Christof Loy am Sonntagabend eine spektakulär fokussierende Personenregie und Herbert Murauer eine bedrängende Angstbühne, die das Personal sowohl phobisch zusammenpferchte, als auch in der unendlichen Raumweite verloren gehen ließ – Stanley Kubrick lässt grüßen.

“Wozzeck”

“Wozzeck”

Während die Inszenierung kühles Grauen ausstrahlte, drangen grelle Emotionen bis hin zur makabren Karikatur aus dem Orchestergraben. Generalmusikdirektor Sebastian Weigle vereinte romantisches Auflodern mit präzis instrumentierter, analytischer Charakterzeichnung. Mustergültig arbeitete er mit dem Opernorchester die ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten der Musik heraus, die emotionale Wucht mit mathematischen Konstruktionen in einer Fülle von Kompositionstechniken verbindet.

Alle Solisten, bis auf den in der Höhe leicht angeschlagenen Vincent Wolfsteiner als Tambourmajor, gaben eine grandiose Vorstellung. Allen voran Ensemblemitglied Claudia Mahnke als verzweifelte und untreue Marie, über Frankfurt- und Wozzeck-Debütant Audun Iversen (eingesprungen für den erkrankten Johannes Martin Kränzle) bis hin zur überragenden Katharina Magiera als leichtfertige Margret. Gasttenor Peter Bronder verlieh seinem Hauptmann eine sadistische Note, während Alfred Reiter seinen Doktor durch und durch zynisch anlegte.

Inspiriert von Georg Büchners berühmten Straßburger Briefen, in denen er vom Lebenskerker schreibt, "in dem wir geboren und großgezogen sind", hatte Murauer die Bühne in ein graues Verlies verwandelt, das nur durch Luftgitter mit der Oberwelt verbunden war und eine ausweglose Atmosphäre aus Versuchslabor und ewigem Gefängnis atmete. Die Zwischenwände ließen sich von Szene zu Szene verschieben, die Rückwand beliebig entfernen.

Aber selbst die Naturszenen im Ährenfeld erinnerten eher an Halluzinationen als an eine Idylle. Der Himmel drohte die Menschen schwarz und bleiern zu erdrücken, und Wozzeck mutierte in der Mordszene mittels Scherenschnitt-Ästhetik zum schrecklichen Fänger im Roggen. Dazu erschuf Christof Loy psychotisch entgleisende Gesellschaftstableaus. Mal stierten Chor und Statisten stumpf ins Publikum, auf Stühlen hockend wie in einem Arztwartezimmer, dann wieder verklebten ihre Kontaktversuche in der schrillen Wirtshausszene zu hilflosen Gesten, die einem Max Beckmann-Gemälde entnommen schienen.

Von diesen nur 90 Premierenminuten ging eine derart verstörende Kraft aus, dass man sich anschließend wie durch den Wolf gedreht fühlte. Und deshalb war keiner der frenetischen Bravorufe zu viel, die das Publikum am Ende lauthals für alle Beteiligten spendete.

(Von Bettina Boyens)

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