Überragender "Stiffelio" an der Oper Frankfurt – Religiöse Krise und erotische Verwirrung

01. Februar 2016 - 16:48 Uhr

Frankfurt am Main (MH) – Giuseppe Verdis selten gespielter "Stiffelio" überzeugt an der Frankfurter Oper als zwingende Studie über christlichen Sektenzwang, Eifersucht, Liebe und unterdrückte Sexualität. Das liegt an Verdis ekstatischer Musik ebenso wie am überzeugenden Russell Thomas in der Titelpartie. Mehr noch: Benedict Andrews' konsequente Regie und Johannes Schütz' karge Bühne garantieren 150 Minuten atemlose Spannung. Das Publikum reagierte bei der Premiere am Sonntag einhellig begeistert und feierte den amerikanischen Tenor mit Jubelrufen.

Stiffelio

Stiffelio

Ein evangelischer Sektenpriester im Konflikt zwischen geistlicher Pflicht und persönlicher Eifersucht, seine Ehefrau zwischen Liebe und Ehebruch, am Ende ein angebliches Lieto fine mit christlicher Begnadigung, dem man getrost misstrauen sollte: Verdis lange verschollen geglaubter, damals stark zensierter und erst in den 1990er Jahren wiederhergestellter "Stiffelio" ist reich an fesselnden Themen und drängender Melodik. Für die Oper Frankfurt guter Grund, die restaurierte Rarität zu zeigen.

In der Sicht des australischen Regisseurs Benedict Andrews ist Stiffelio der charismatische Führer von fundamentalen Christen, die sich von der bedrohlichen Außenwelt abschotten und versuchen, die Utopie universeller Liebe zu leben. Als Stiffelio durch die Untreue seiner Frau selbst am Glauben zu zweifeln beginnt, stürzt er damit auch seine Gemeinde in tiefe Verunsicherung. Ganz im Kontrast zur schwelgerischen, üppigen Musik Verdis zeigt der Frankfurter Johannes Schütz das Pfarrhaus als durchlässigen Ort, in dem es keine Sekunde Privatheit gibt. Kaum ist der Verdacht des Ehebruchs im Raum, setzt Schütz die große Drehbühne in Gang und das gläserne Haus gleich mit. Im Laufe der drei Akte wird es sich boshaft zum kalten Kreuz mit dunklen Schatten aufrichten, schwindelerregend abheben und als düsterer Kirchenraum zum Symbol der Unterdrückung mutieren.

Der aus Miami stammende Tenor Russell Thomas als Stiffelio macht jede Sekunde seines Auftritts zum Ereignis. Einfach unglaublich erscheint die in jedem Register aufregende Präsenz seiner Stimme, dazu seine schluchzende Weichheit in der Höhe und die emotionale Otello-Wucht der Darstellung. Mit der lyrischen Vielfarbigkeit ihres Soprans ist auch Sara Jakubiak als Ehefrau Lina ideal besetzt, während ihr Vater Stankar (Dario Solari), hier als inzestuöser Fundamentalist mit kalter Mordlust ausgestattet, in den Höhen seines Baritons ausgedünnt wirkt.

Durchwachsen auch die Leistung im Orchestergraben. Mozartspezialist Jérémie Rhorer scheint in seinem Verdi-Debüt nicht immer sicher. Unschöne Ausfransungen bei den Streichern im zweiten Akt und eine überlaute Penetranz der Wiederholungen stören den Gesamteindruck. Dafür hat Tilmann Michael seinen mennonitischen Blumenchor samt Fetisch-Wallehaaren (Kostüme: Victoria Behr) bestens für das innige Miserere und die kraftvollen Massenszenen präpariert.

(Von Bettina Boyens)

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