Berlin (mh) – Barenboim braucht keine großen Gesten an diesem Abend auf der Waldbühne. Die Botschaft des Dirigenten und des West-Eastern Divan Orchestra kommt auch so an: Ein Zusammenleben jenseits des Krieges ist möglich. Und Musik kann ein Weg dorthin sein.
Stunden vor dem Konzert begannen sich die Ränge des Amphitheaters zu füllen, die Stimmung ist freudig gelöst und passt zu den heißen Sonnenstrahlen, die sich schon verdächtig nach Herbst anfühlen. Als sich die Musiker des West-Eastern Divan Orchestra zu beiden Seiten der Bühne versammeln, beginnen ein paar ungeduldige Besucher zu klatschen. Freunde der jungen Musiker vielleicht? Davon, dass diese mitunter aus verfeindeten Gebieten stammen, ist heute Abend nichts zu spüren. Einige spielen sich ein, einige posieren für die Kamera vor der Menschenkulisse auf der Zuschauertribüne. Gelächter ist zu hören. Man freut sich auf das gemeinsame Musizieren. Ein ganz normales Konzert eben.
Es ist aber kein normales Konzert. Ein Konzert des West-Eastern Divan Orchestra ist immer auch ein Politikum, das Orchester selbst ist eines. Seit der Gründung 1999 durch den in Argentinien und Israel aufgewachsenen Dirigenten Barenboim und den palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said steht der Klangkörper für den Dialog zwischen den verfeindeten Kulturen von Israelis und Palästinensern. Gerade vor dem Hintergrund der Geschehnisse seit Juli 2014, etwa einem Monat vor dem ersten Sommerkonzert des Orchesters, scheint ein solcher Ort des offenen Diskurses, des gemeinsamen Musizierens utopischer denn je.
Zum gemeinsamen Musizieren begeben sich die jungen Orchestermitglieder alljährlich auf eine Welttournee, die sie zu den hochrangigsten Festivals wie Lucerne Festival, BBC Proms und Festspiele Salzburg führt und die ihren Abschluss seit einigen Jahren auf der Waldbühne findet. Hier fallen pünktlich zu Konzertbeginn drei Regentropfen – ein drohendes "Es könnte auch anders" -, dann verziehen sich die Wolken und geben den Blick auf einen für Berlin ungewöhnlich sternenvollen Himmel frei.
Das Orchester beginnt zu blühen
In der Orchestereinleitung des Mozart’schen Klavierkonzerts B-Dur KV 595 von 1791 ist Barenboim noch Dirigent. Sauber und klar spielen die Musiker, wenn auch der durch die Abnahme seltsam "filmisch" klingende Sound der Violinen nicht so recht passen will. Das Zusammenspiel der jungen Musiker ist großartig, insbesondere in der im "Allegro" oft solistisch hervortretenden Bläsergruppe. Barenboim, nun in der Doppelfunktion als Dirigent und Solist, gestaltet die Musik agogisch und lässt besonders an den Phrasenenden große Freiheit, ohne dass die folgenden Einsätze darunter leiden. Große dynamische Kontraste kommen nicht vor, die Musik ist klar und unprätentiös. Am eindrücklichsten kommt das im Mittelsatz zum Tragen. Reduziert und doch mit größtem Ausdruck kostet Barenboim die wunderschön einfache Melodie des "Larghetto" aus, ohne sich zu inszenieren. Auch hier ist beeindruckend, wie eng der Kontakt des Solisten zu seinen Mitmusikern ist, allen voran zu den solistischen Holzbläsern. Deren oft zwischen Dur und Moll changierende Linien sorgen für schmerzhaft-schöne Schauer. Im "Rondo" besticht Barenboim eher durch die heiter und frisch gespielte Melodie – Vorläufer des Liedanfangs "Komm, lieber Mai" – als durch die virtuosen Läufe. Mit diesem Ohrwurm wird das Publikum in die Pause entlassen.
Nach Arbeitsphasen in Weimar und Chicago ist der feste Probensitz des Orchesters seit 2002 im andalusischen Sevilla. Dort bereiten sich die jungen Musiker jeden Sommer mit einem Rahmenprogramm an Vorträgen und Diskussionen auf ihre Konzerttournee vor. Passend dazu steht die zweite Hälfte des Waldbühnenkonzerts mit Werken von Maurice Ravel im Zeichen der Hommage an Spanien. Schon die ersten Takte der Rapsodie espagnole op. 54 von 1907/08 versetzen den Zuhörer von seinem mittlerweile deutlich abgekühlten Platz am Murellenberg in die schwüle Hitze einer südländischen Nacht: Die insistierenden Repetitionen zu Beginn des 1. Satzes, "Prélude à la nuit", haben etwas Beklemmendes. Welch ein Kontrast zum Mozart’schen Klavierkonzert! Das Orchester beginnt an allen Enden und Ecken zu blühen, vielfältigste Klangfarben entstehen, von gedämpftem Blech zu schillernden Läufen. Die zahlreichen Passagen, in denen einzelne Instrumente hervortreten, werden mit Bravour gemeistert – endlich kommen auch die Blechbläser auf ihre Kosten. Das Englischhorn singt schwermütig, und nahtlos geht es in die Höhe zu den Piccolo-Flöten über. Im zweiten und dritten Satz scheinen die von Ravel verwendeten Elemente der folkloristischen Tänze "Malagueña" und "Habanera" tatsächlich auf Daniel Barenboims Hüfte überzuspringen. Die gestochen scharfen, aber ohne jeden Druck gespielten Töne der Piccoloflöte wie der folgenden Bläser stimmen auf das Freudenfest des letzten Satzes ein, in dem Ravel den Trubel eines Jahrmarkts ("Feria") zum Klingen bringt.
Mühelos bewältigt das Orchester auch die ständigen rhythmischen und metrischen Wechsel von Alborado del gracioso ("Morgenlied eines Narren"): Das groteske Stück lebt von starken Kontrasten, innerhalb weniger Sekunden treibt Barenboim die Musiker vom leisesten Pizzicato zum perkussiven Großschlag. In der Pavane pour une infante défunte, dem "langsamen Tanz für ein verstorbenes Mädchen", passt der Streichersound nun hervorragend. Im Schmelzklang bleibt dennoch die Transparenz der einzelnen Instrumentengruppen gewahrt. Wieder einmal spielt das Orchester unter Barenboim ruhig und gefasst, aber mit größter Emotionalität. Die traurige Kantilene, weich und gefühlvoll vom Horn angestimmt, versetzt in andere Sphären – spätestens, wenn sich die Flöte über dem Orchester erhebt.
Im Tutti offenbart sich das musikalische Wunder
Vor dem Boléro ändert sich die Stimmung im Publikum merklich. Faszinierend, wie sich der Fokus der zehntausenden Zuschauer mit einem Mal auf einen einzigen Musiker richtet. Unaufdringlich, aber präzise beginnt die kleine Trommel ihren legendären Rhythmus, der das ganze Stück durchziehen wird. Darüber wechselnde Soli, allesamt sehr frei, ohne Allüren und vor allem mit Freude gespielt. Barenboim wirkt entspannt und ist doch für jeden der Solisten anwesend. Im Orchestertutti gegen Ende reduziert er sein Dirigat fast gänzlich und lässt den Musikern freies Spiel, bei markanteren Stellen gelegentlich mit gestreckten Armen nach vorne springend. Und spätestens im Orchestertutti offenbart sich das musikalische Wunder: So unmerklich wie kontinuierlich steigerte sich die Linie von Beginn an, sowohl in Dynamik wie auch Intensität. Das Publikum bedankt sich mit Begeisterungsstürmen, die vom exzellenten Trommler und seinen Kollegen bescheiden entgegen genommen werden. Der Applaus wird erhört und die fetzigen Rhythmen wie herzzerreißenden Melodien von Bizets Carmen-Suite animieren das hocherfreute Publikum zum Mitklatschen.
Und nun möchte Daniel Barenboim doch noch etwas sagen. Es wird still – äußert er sich zum Krieg in Nahost? Zu Beginn ihrer diesjährigen Tournee sei das West-Eastern Divan Orchestra nach Argentinien gereist, und die Argentinier hätten geglaubt, das Orchester sei zum Musizieren gekommen, sagt Barenboim. Aber eigentlich hätten sie nur Tango lernen wollen. Gelächter, Ende der Ansprache. Und mit einem Tango, El firulete, in der Bearbeitung von José Carli erklingt dann tatsächlich das letzte Stück des gelungenen Abends. Auch hier die Botschaft des Orchesters und ihres Dirigenten Daniel Barenboim: Um Politik geht es immer, heute Abend ging es um Musik.
(Von Janina Rinck)
West-Eastern Divan Orchestra in der Berliner Waldbühne (22.08.2014)
© musik heute. Alle Rechte vorbehalten – Informationen zum Copyright