München (MH) – Erwartungsvoll-gespannte Vorfreude auf große Oper und einen heimischen Startenor? Die will sich hier in München nicht einstellen, wenn man in einem Kino an der Kassenschlange steht und in vier von fünf Sälen Marsianer und Fantasy-Streifen gezeigt werden. Atmosphäre – Fehlanzeige. Man drängelt auf dem Weg zum Saal an der Treppe, die mancher Dame beim Auf- und Abstieg Beschwerden bereitet, das Durchschnittsalter würde allen "Hat-die-Oper- Zukunft?"-Skeptikern eine klar negative Antwort geben. Am Abend zuvor waren im Münchner Nationaltheater, ein paar hundert Meter weit entfernt, mehr junge Leute als hier im Kino am Münchner Isartor. Dabei tritt derselbe auf: Jonas Kaufmann, zur Zeit von vielen gepriesen als bester aller lebenden Tenöre.
Am 14. Juni 2015 gab Kaufmann in der Mailänder Scala einen Arienabend mit ausschließlich Puccini-Stücken. Das ist eigentlich sein Job, könnte man sagen, Kaufmann singt – wie jeder Profi – zwischen 70 und 90 Konzerte pro Jahr. Aber Kaufmanns Vermarkter machen auch einen guten Job und so entstand aus dem Scala-Auftritt ein Kinofilm, der kurz nach Veröffentlichung seiner Puccini-CD in den Kinos zu sehen ist, den es ab 2. November als DVD zu kaufen gibt, kurz bevor am 27. November die DVD mit "La Fanciulla del West" aus der Wiener Staatsoper erscheint und auch bevor Kaufmann am 18. Oktober mal wieder den Echo Klassik bekommt. Kaufmann im Wochentakt, Strategie ist alles.
"Jonas Kaufmann – ein Abend mit Puccini" – der Film macht am Anfang wütend. Innerhalb von gefühlten zehn Sekunden hat sich der Protagonist bereits einmal umgezogen und erscheint beim Eintritt in das Scala-Gebäude in anderem Outfit als bei der ersten Einstellung in der Mailänder Galleria Vittorio Emanuele II.
Dann das Konzert. Während das Orchester der Scala als Auftakt aus Puccinis Erstling "La Villi" spielt, werden interessante historische Schwarzweißfilm-Szenen über Puccinis Leben eingeblendet, dazu hört man aber Kaufmann mit ziemlich primitiven Informationen über den Komponisten. Kein Zweifel – Vorlesen ist seine Stärke nicht. Wo sind wir hier? Konzert? Bildungsfilm? Die Mischung stimmt nicht.
Dann endlich entschließt sich die Regie, sich ganz auf das Geschehen im Bühnenraum der Scala zu konzentrieren. Nun liefern die elf Kameras (laut Abspann, Moderatorin Barbara Rett wird später im Interview 13 erwähnen) bestechende Bilder in unübertroffener Brian-Large-Manier. Wo was los ist im Orchester, hält die Kamera drauf. Horn- und Harfe spielende Hände in Großaufnahme, Cellosaiten leinwandfüllend, gutaussehende Musikerinnen und Musiker, der prächtige Innenraum des Legendenhauses – schönste Optik allerorten.
Glücklicherweise aber sind das Überzeugendste des Films die Musiker – und Puccini. Das Orchester Filarmonica della Scala spielt unter Leitung von Jochen Rieder bestechend. Und der Star des Abends?
Eigentlich braucht Jonas Kaufmann nur weniger als eine Minute und jeder Zuhörer begreift, welch außerordentlicher Könner hier am Werk ist. Exakt gemessen sind es nur 46 Sekunden. 46 Sekunden in der Mitte der Tosca-Arie "E lucevan le stelle", ein Phrasenbeginn, in dem Kaufmann bei 1:38 nach der Uhr "dolci baci" in perfektem Legato-Pianissimo beschreibt, dann in gelungenem Vokalausgleich mehr Gewicht in die Stimme bringt, auf dem hohen A noch die Verzierung zaubert, auf die der erfahrene Zuhörer besonders hört. Dann stellt Kaufmann sein Organ auf männliche Röhre und landet beim Ausdruck verzweifelter Freude am Leben im Angesicht des Todes. Meisterlich, das war’s, die Uhr zeigt 2:24.
Die Bandbreite der Ausdrucksfähigkeit und der stimmlichen Möglichkeiten gepaart mit ruhigem, fast buddhistischem Auftreten und sichtbar totaler Konzentration sind Kaufmanns Qualitäten. Sie machen den im Interview später entspannten Sofaplauderer auf der Bühne zu einem mit großer, am Lied geschulter Gesangskultur überzeugenden Künstler, der Vergleichen auch mit den historisch Größten seines Fachs mittlerweile gut standhält.
Großaufnahmen sind bei vielen Sängern peinlich, bei Kaufmann machbar, er sieht beim Singen gut aus, die Mimik ist die eines Schauspielers, das ist angesichts der sängerischen Leistung nicht genug zu bewundern. Sage und schreibe 13 Arien singt er an diesem Abend, wiederholt "Nessun dorma", mit jedem Stück wächst die Begeisterung im Publikum bis zu stehenden Ovationen, roten Rosen und Geschenken für den Sänger. 40 Minuten Beifall und fünf Zugaben soll es im Juni in der Scala gegeben haben, das kann der Film nicht wiedergeben und im Kino kommt die Atmosphäre kaum an. Niemand applaudiert, niemand traut sich, sich durch ein "Braaavo" zu erleichtern. Das im Anschluss an den Film live aus einem Münchner Kino übertragene Live-Interview von Barbara Rett mit Kaufmann schauen sich aber fast alle Kinobesucher noch an.
Fazit: Kino ist eben doch nicht große Oper. Aber Opernkarten für Kaufmann kaufen, das ist‘s.
(Von Martina Kausch)
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Tenor Jonas Kaufmann gibt Solo-Debüt im Kino (08.10.2015 – 08:15 Uhr)
Link:
http://jonaskaufmannpuccinifilm.com/de
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