Dresden – Die russische Komponistin Sofia Gubaidulina hat ein Oratorium für die Sächsische Staatskapelle geschrieben. "Über Liebe und Hass" wird in der Dresdner Semperoper am (heutigen) Sonntag erstmals in Deutschland gespielt. "Im Zentrum steht die Frage, was wird?", sagte die 85-Jährige am Freitag der Deutschen Presse-Agentur in Dresden. Die nahe Hamburg lebende Künstlerin hat das Oratorium im Auftrag des Orchesters komponiert, dessen Capell-Compositrice sie ist. Sie sei aufgeregt, obwohl die Uraufführung am 14. Oktober in Tallin ein Erfolg gewesen sei.
Basis des 50-minütigen Werkes für Chor, Orchester und Solisten ist ein Gebet des Mönchs Franz von Assisi, das Gubaidulina in einem irischen Kloster entdeckte. "Ich war absolut begeistert, man kann sagen verliebt", sagte die Künstlerin. "Es geht darum, Liebe dorthin zu bringen, wo Hass regiert." Bibeltexte und das russische Gebetbuch, aber auch das weltpolitische Geschehen, die Spannungen zwischen Ost und West, der Konflikt der Religionen und der Zustand der Kultur beschäftigten sie. "Die Menschen haben niemals so einen Niedergang der Kultur erlebt."
Das Schlüsselwerk ist ein Spiegel dieser Entwicklung in sprachlicher Polyphonie. "Der Solist singt über Hass auf Russisch und der deutsche Chor spricht über unsere Liebe zu Gott", erklärte Gubaidulina, die Egoismus, Hass und schwindende Religiosität umtreiben. "Der Mensch betet nur noch für sich selbst oder für Verwandte und Kinder, fast niemand aber betet mehr für Gott", sagte die russisch-orthodoxe Christin. In dem historischen Gebet gehe es darum, dass der Mensch trösten, verstehen und lieben kann. "Beim Lesen ist mir klar geworden, dass wir alle Egoisten sind."
Gubaidulina will zum Nachdenken anregen. So lässt sie den Bariton aggressiv "Ich hasse!" sprechen und dann "Ich hasse?" fragen. Das Werk beantworte die Frage nicht, aber Texte von Liebe bildeten einen Kontrast. Aggressivität gegen Liebe – "die Frage muss gestellt werden". "Die Welt braucht kulturelle Energie", betonte Gubaidulina. Sie will weiter an dem Oratorium arbeiten, in einem Jahr soll es 80 Minuten lang sein. Dazu aber brauche sie Einsamkeit, Schlaf und Spaziergänge in und an ihrem Haus in der Nähe von Hamburg, wo sie seit 25 Jahren lebt. "Ich liebe Deutschland, das ist die glücklichste Zeit meines Lebens."
(dpa/MH)
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