Von Christoph Spering, Chordirigent
Felix Mendelssohn Bartholdys Wiederaufführung der Matthäus-Passion am 11. März 1829 in der Berliner Singakademie ist als Initialzündung für die Wiederentdeckung Johann Sebastian Bachs in die Musikgeschichte eingegangen. Der junge Mendelssohn hatte eine wertvolle Abschrift des Werkes Weihnachten 1823 von seiner Großmutter als Geschenk erhalten und sich Anfang 1829 – wenn man den Legenden, die sich um dieses Ereignis ranken, Glauben schenken darf – zusammen mit seinem acht Jahre älteren Freund Eduard Devrient, der später die Christuspartie sang, eine Wiederaufführung vorgenommen. Die beiden jungen Männer sollen dem alten Zelter, hoch angesehener Leiter der Berliner Singakademie und ein persönlicher Freund Goethes, die Aufführung der "Matthäus-Passion" regelrecht abgetrotzt haben.
Unter anderem gibt ein Brief vom 22. März 1829 von Fanny Mendelssohn über manche Details der Vorbereitung und des Konzertes Auskunft:
"…Felix und Devrient sprachen schon lange von der Möglichkeit einer Aufführung, aber der Plan hatte nicht Form noch Gestalt, an einem Abend bei uns gewann er beides, und den Tag darauf wanderten die Zwei in neugekauften gelben Handschuhen (worauf sie sehr viel Gewicht legten) zu den Vorstehern der Singakademie. Sie traten leise auf und fragten bescheidentlich, ob man ihnen zu einem wohltätigen Zweck wohl den Saal überlassen würde? … Zelter hatte nichts dawider einzuwenden, und so begannen die Proben am folgenden Freitag. Felix ging die ganze Partitur durch, machte einige wenige zweckmäßige Abkürzungen und instrumentierte das Rezitativ: 'Der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke'. – Sonst ward alles unberührt gelassen … Mittwoch, den elften März war die erste Aufführung, die man, unbedeutende Versehen der Solosänger abgerechnet, durchaus gelungen nennen konnte … Die Chöre waren von einem Feuer, einer schlagenden Kraft und wiederum von einer rührenden Zartheit, wie ich sie nie gehört, außer bei der zweiten Aufführung, wo sie sich selbst übertrafen…"
Mendelssohns Partitur und die Stimmen der Aufführungen von 1829 liegen heute in der Bodleian Library in Oxford. Wie wir aus dem oben erwähnten Brief Fanny Mendelssohns wissen, hatte der berühmte Geiger Julius Rietz zusammen mit seinem Bruder und seinem Schwager die Stimmen aus dem von Mendelssohn bearbeiteten Partiturexemplar kopiert. Tatsächlich sind noch heute alle Instrumentalstimmen in Oxford vorhanden, so daß wir ein genaues Bild über die Besetzungsstärke in den legendären Aufführungen Mendelssohns erhalten. Er hatte sich dem Werk und seiner wertvollen Abschrift mit größter Hochachtung genähert und nur durch feinste Bleistifteintragungen oder – mittlerweile getilgte – Überklebungen kenntlich gemacht, was die Abschreiber in die Stimmen der Ausführenden zu übertragen hatten. Die Bearbeitung bestand im wesentlichen aus im Mendelssohnschen Sinne notwendigen Kürzungen, wodurch etwa zwei Drittel der Arien wegfielen. Die verbleibenden Accompagnati traten an deren Stelle und erhielten dadurch ein neues Gewicht im Gesamtkonzept.
Zwölf Jahre nach dem Berliner Ereignis fand am Palmsonntag, dem 4. April 1841, in der Reihe der "Historischen Konzerte" die Wiederaufführung der Matthäus-Passion am Ort ihrer Erstaufführung, der Leipziger Thomaskirche, statt. Mendelssohn selbst kündigte dies in der "Leipziger Allgemeinen Zeitung" folgendermaßen an:
"Dieses Meisterwerk, welches in so vielen anderen Städten Deutschlands den tiefsten Eindruck hervorbrachte, ist hier seit dem Tode seines Componisten nicht zu Gehör gekommen. Um es auf würdige Weise ins Leben zu rufen, haben die bedeutendsten Talente für die Soli, die Chöre und die Instrumentalpartie ihre Mitwirkung freundlich zugesagt. Die beiden Orchester werden durch Orgel verstärkt."
Auch 1841 benutzte Mendelssohn das Stimmenmaterial, das er 1829 für Berlin hatte anfertigen lassen. Die Secco-Rezitative, die Mendelssohn 1829 selbst auf dem Pianoforte begleitet hatte, ließ er 1841 allerdings von zwei doppelgriffig spielenden Celli und einem Kontrabass ausführen.
Außerdem nahm er vier der zuvor gestrichenen Arien – "Blute nur", "Gebt mir meinen Jesum wieder", "Aus Liebe will mein Heiland sterben" und "Mache dich, mein Herze, rein" – sowie den Choral "Wer hat dich so geschlagen" wieder hinein. Die von Bach vorgegebene Doppelchörigkeit ließ er in den Hintergrund treten, indem er zwei der wieder aufgenommenen Arien entgegen der Bachschen Intention dem ersten Orchester zuordnete. So wurden die Violinsoli in den Arien "Erbarme dich" und "Gebt mir meinen Jesum wieder" beide vom Konzertmeister des ersten Orchesters gespielt.
Einige Änderungen, z.B. Kürzungen des Da Capo in der "Aus Liebe will mein Heiland sterben" und der Verzicht auf den Mittelteil von "Mache dich, mein Herze, rein", wurden erst während der Proben vereinbart, wie aus Rötelstifteintragungen in den Originalstimmen hervorgeht. Der verbleibende Notentext wurde 1841 wie auch schon 1829 im wesentlichen unangetastet gelassen, sieht man von wenigen Kadenzen, einem Stimmtausch innerhalb eines Akkordes im Eingangschores und einer Umdeutung von Dur nach Moll im Choral "Wenn ich einmal soll scheiden" ab.
Die Verwendung der Klarinetten anstelle der Oboen d’amore und Oboen da caccia – für uns heute eine kleine Sensation – ist lediglich als Tribut an die aufführungspraktischen Möglichkeiten der Mendelssohnzeit zu verstehen, waren doch schon im Berlin des Jahres 1829 die geforderten Varianten der Oboe nicht mehr selbstverständlich im Orchester vorhanden.
Mendelssohns Eingriffe in die Evangelistenrezitative – meist legte er hohe Stellen nach unten – sind nicht mit einem Unvermögen des damaligen Sängers zu begründen, sondern exponieren gewisse Spitzentöne, indem sie auf Extreme an anderen Stellen verzichten. Ein deutliches Beispiel ist das Rezitativ, das vom Leugnen des Petrus berichtet. Die erste Stelle "und alsobald krähete der Hahn" notiert Mendelssohn eine Oktave tiefer als Bach, um an der zweiten Stelle das "Krähen" durch die hohe Lage um so bildhafter zu machen. Die folgende Zeile behandelt er auf ähnliche Weise. "Und ging hinaus" erklingt in der tieferen Oktave, so daß das folgende Wort "weinete" durch die hohe Lage und die zusätzliche Anweisung "Adagio" eine bildhaftere Gestaltung erfahren kann. Zwei Fermaten auf "bitterlich" und die Deutung des Schlußakkordes als Fis-Dur, das zu Bachs Zeiten an dieser Stelle undenkbar gewesen wäre, erzielen eine vollkommen neue musikalische Wirkung.
Der Schlüssel zum Verständnis der Mendelssohnschen Bearbeitung
An dieser Stelle begegnen wir dem Schlüssel zum Verständnis der Mendelssohnschen Bearbeitung. Das Rezitativ, zur Zeit Bachs der Ort des Affektumschlags, wurde nun zum Ort des Ausdrucks menschlicher Emotion. Resultierte solche Emotion bei Bach aus der gleichsam kanonisierten Figurenlehre, war dieser intellektuelle Aspekt des Komponierens im 19. Jahrhundert verloren gegangen. Mendelssohn nahm den Affekt als Emotionsgehalt war und suchte musikalische Mittel, diesen zu steigern. Nur so sind auch die reichlich mit dynamischen Ausführungsanweisungen versehenen Christusworte zu verstehen, die ihn zu einem Menschen aus Fleisch und Blut modellieren.
Die Arien und Accompagnati im vorhandenen Textbuch von 1829 sind objektivierend mit "Eine Stimme" überschrieben. Dienten sie bei Bach meist zur subjektiven Vertiefung des im vorausgehenden Rezitativ geschilderten Affektes, so sind sie bei Mendelssohn als objektivierende Spiegelungen menschlicher Emotionalität zu verstehen. Aus dem gleichen Grund scheinen auch die Choräle bis auf wenige Ausnahmen keine dynamischen Bezeichnungen erhalten zu haben. Man muss davon ausgehen, daß sie wie zu Bachs Zeiten in einer Einheitsdynamik gesungen werden sollten, die allein vom Affekt bestimmt war, den Mendelssohn als schlichte Emotion verstand. Lediglich in einigen Stimmenheften erhielten sich eindeutig in den Proben nachgetragene Lautstärkebezeichnungen, so beispielsweise bei dem nun a cappella ausgeführten Choral "Wenn ich einmal soll scheiden".
Sehr sorgfältig bezeichnete Mendelssohn dagegen die Dynamik in den großen Chören. Der Eingangssatz beginnt hier im ersten Chor mit "Mezzoforte" und lässt den zweiten Chor als ungeduldig fragende Volksmenge im "Forte" einsetzen. Den Schlusschor des ersten Teils, "O Mensch, bewein dein Sünde groß", versah Mendelssohn mit der gesamten Bandbreite romantischer Dynamik, so daß beispielsweise die Textzeile "Von einer Jungfrau rein und zart" im "Piano" erklingt.
Die Artikulationsbögen der Streicher wurden von Mendelssohn und seinem Konzertmeister Rietz zu mehr Flächigkeit hin geändert; fast nie jedoch finden sich Bögen über Taktstriche hinweg, die die rhythmische Struktur womöglich verunklart hätten. Auch Crescendo, Diminuendo und Ritardando wurden äußerst sparsam angebracht.
Alle noch so kleinen musikalischen Eingriffe konnte so wohl dosiert und mit entsprechend überzeugender musikalischer Wirkung wohl nur ein Genie wie Felix Mendelssohn Bartholdy vornehmen. Verwirklicht man die hinzugefügten Vortragsbezeichnungen, so ergibt sich – wie die Beschäftigung des Chorus Musicus Köln und des Neuen Orchesters mit dieser Bearbeitung der Matthäuspassion nachweisen konnte – keine Monumentalaufführung, sondern eine von der Emotion geleitete Darstellung der Passionsgeschichte mit manch verblüffendem Detail.
(Bei dem Aufsatz handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung des gleichnamigen Beitrags aus: "Blickpunkt Felix Mendelssohn Bartholdy", hg. von B. Heyder und Chr. Spering, Köln 1994. (c) beim Autor)
Anmerkungen des Autors
Dass Bach nicht nur in Fachkreisen uneingeschränkt zu den größten Genies der Musikgeschichte gezählt wird, war nicht immer selbstverständlich. Felix Mendelssohn Bartholdy kommt das große Verdienst zu, Zeitgenossen und Nachwelt nicht nur mit dem eigenen, einzigartigen und vielfältigen kompositorischen Œuvre beschenkt, sondern darüber hinaus die oratorische Musik Johann Sebastian Bachs wiederentdeckt zu haben. Wer weiß, ob wir ohne sein Engagement für diese Musik alljährlich zu Aufführungen der Matthäus-Passion zusammen kämen, wie es in vielen deutschen Städten seit den Jahren nach Mendelssohns Erstaufführung in Berlin 1829 üblich geworden ist.
Ich habe mich seit 1991 immer wieder mit den romantischen Einrichtungen der Matthäuspassion befasst und dabei diejenige Mendelssohns herausgefunden, die sich – soweit erkennbar – dem Bachschen Original am behutsamsten nähert. Und darauf ist es wohl zurückzuführen, dass man, wie mir viele Zuhörer bestätigt haben, vor allem Bach hört, gespiegelt an den aufführungspraktischen Bedingungen in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Die Kürzungen, die Mendelssohn vornahm, wirken nirgends radikal; die Konzentrierung des Textes kommt meiner Meinung nach dem heutigen Publikum ebenso entgegen wie dem vor 170 Jahren.
Mendelssohn führte die Matthäuspassion 1829 nicht nur erstmals in Berlin, sondern 1841 auch erstmals seit Bachs Tod wieder in Leipzig auf, in einem Konzert, dessen Erlös jenes Bach-Denkmal mitfinanzierte, das auch heute noch vor dem Hauptportal der Thomaskirche steht.
Hinweis der Redaktion: Der Chordirigent Christoph Spering hat 1992 in Oxford Mendelssohns Fassung der Matthäus-Passion entdeckt und mit seinen Ensembles Chorus Musicus Köln und Das Neue Orchester erstmals aufgeführt. In der selben Besetzung wurde die Aufführung im Juni 2011 in der Trinitatiskirche Köln auf Video aufgenommen. Dieser Film ist seit März 2012 im Bachhaus Eisenach zu sehen.