Von Bernd Willimek, Musiktheoretiker, und Daniela Willimek, Dozentin (HfM Karlsruhe)
Der Abschied tut so weh…
Die Subdominante mit Septime bringt Wehmut
Die Dur-Subdominante mit großer Septime ist besonders geeignet, die wehmütige Stimmung – zum Beispiel bei einer Abschiedsszene – musikalisch darzustellen. Wie lässt sich das erklären? Mit der Dur-Subdominante lässt sich – wie oben hergeleitet – ein Gefühl der Unbeschwertheit zum Ausdruck bringen. Klingt nun zusätzlich noch die große Septime, dann mischt sich in den konsonanten Durdreiklang eine Dissonanz, die in der traditionellen Harmonielehre als auflösungsbedürftig, als Strebung, beschrieben wird. Tauscht man bei Anwendung der Strebetendenz-Theorie die Vorstellung Strebung aus gegen die Vorstellung "Identifikation mit einem Willen gegen eine Veränderung", lässt sich die Wirkung des gesamten Klangs als Ineinander-Wirken zweier Einzeleindrücke beschreiben: Einerseits die unbeschwerte Stimmung der Subdominante, andererseits die Identifikation mit einem Willen gegen eine Veränderung aufgrund der Wirkung der großen Septime. Ein Eindruck also, als ob wir mit einer Seele mitfühlen könnten, die im Moment der Unbeschwertheit auf einmal versucht, den Augenblick festzuhalten. Der Charakter der Vergänglichkeit mischt sich in die Stimmung der Unbeschwertheit und lässt diese für den Hörer als aus Wehmut heraus empfunden erscheinen.
Die Subdominante mit großer Septime fand als Reizharmonie bereits bei Johann Sebastian Bach reichlich Verwendung (z.B. Air, letzte Harmonie auf dem langen Anfangston) und behielt diese Rolle durch alle Epochen hindurch bis in die Popmusik (z.B. Elton John: Your Song, zweiter Akkord nach dem Gesangseinsatz).
Als die Jugend revoltierte…
Der Septakkord leistet Widerstand
Der Dominantseptakkord beinhaltet nach Angaben der Musiktheoretiker zwei starke Strebungen, nämlich die Terz und die kleine Septime. Tauschen wir auch hier die Vorstellung "Strebung" gegen die Vorstellung "Identifikation mit einem Willen gegen eine Veränderung" aus, so ergibt sich jetzt die Identifikation mit einem Willen gegen eine Veränderung gleich auf zweifache Weise. Diese doppelte "Willensregung-gegen-etwas" macht den Klangcharakter des Dominantseptakkordes aus.
Dieser findet als Ausdruck des Widerstands, des Bremsens, Verwendung. Diese Bremswirkung wird vom Hörer dann als sinnvoll angenommen, wenn die Dominante ohne Septime zuvor im Hörer die Vorstellung von Bewegung erzeugt hatte. Deswegen fordern gewisse Regeln der Harmonielehre, die Septime erst der bereits klingenden Dominante hinzuzufügen. Durch das Hinzufügen der kleinen Septime mit ihrer Bremswirkung kann der Charakter einer fließenden Bewegung der Dominante in den Charakter einer Schrittbewegung verwandelt werden (Wanderlieder!).
Wird der Dominantseptakkord einer Durtonika dagegen frei eingeführt, erscheint der Eindruck eine Widerstands-Bremswirkung für den Hörer bisweilen unverständlich, weswegen er den Charakter dieses Klangs dann als weichlich oder weinerlich empfindet. Man hat dann den Eindruck, jemand bremse aus Ängstlichkeit bereits vor der Abfahrt.
Eine ganz andere Verwendung fand die kleine Septime im Blues und später in der Unterhaltungsmusik. Die Emanzipation der kleinen Septime auf alle drei Hauptfunktionen schuf einen neuen Ausdruck des Widerstands gegen das Establishment. Das Blues-Schema klingt allein aufgrund seiner Harmonien frech und widerspenstig.
Die einschlagende Wirkung der einstigen Bürgerschreck-Hymne "I can get no Satisfaction" von den Rolling Stones resultiert aus den Septimen des und ges im Tonika- bzw. Subdominantklang. Würde man hier die Septimen aus der Melodie entfernen und sie durch das jeweils einen Ganzton höhere es bzw. as ersetzen, wäre das Lied auf einmal seines revoltierenden Charakters beraubt und könnte als Fanfarenthema Verwendung finden.
Wenn es richtig gemütlich wird…
Die Sixte ajoutée in Dur bringt Geborgenheit
Diether de la Motte beschreibt die Dissonanzen der Sixte ajoutée als auseinanderdrängend. Wenden wir die Strebetendenz-Theorie auf diese Aussage an, dann wird aus den auseinanderdrängenden Dissonanzen ein Zusammenbleiben-Wollen. In dieser Formulierung ist der Charakter der Sixte ajoutée bereits beschrieben. Sie ist Ausdruck von inniger Zweisamkeit, von einem Gefühl warmer Geborgenheit.
Auch diese Eigenschaft wurde schon früher erkannt und beschrieben. So sagt der Musikwissenschaftler Jürgen Uhde über den ersten Satz der Sonate op. 31 Nr.3, der von einem auf drei Takte ausgebreiteten Sixte-ajoutée-Klang eröffnet und charakterisiert wird: "Lange Zeit schien mir in dieser 3. Sonate etwas wie Geborgenheit artikuliert zu sein, …"
Liebeskummer tut weh…
Die Sixte ajoutée in Moll steht für Einsamkeit
Die Sixte ajoutée in Moll ist von ihrer emotionalen Wirkung her das Gegenteil der Sixte ajoutée in Dur. Sie findet Verwendung als Ausdruck von Einsamkeit, von Liebeskummer. Ein prägnantes Beispiel findet sich in Schuberts Liebeskummer-Zyklus "Winterreise", die mit dieser Klangverbindung eröffnet wird ("Fremd bin ich eingezogen…").
Wie lässt sich eine solche Wirkung erklären? Wenden wir die Strebetendenz-Theorie auch auf diesen Klang an, so ergibt sich – so wie bei der Sixte ajoutée in Dur – auch hier der Ausdruck des Zusammenbleiben-Wollens. Da die Grundharmonie nun aber ein Mollakkord ist, erscheint dieser Ausdruck vor dem emotionalen Hintergrund eines Nicht-Einverstanden-Seins. Aus dem "Zusammenbleiben-Wollen" wird so ein "unglückliches Zusammenbleiben-Wollen". Diese Stimmung passt zu einer zerbrochenen Freundschaft, zu Liebeskummer.
Das bringt uns zur Verzweiflung…
Der verminderte Septakkord erzeugt Panik
Der verminderte Septakkord wird traditionell als Klang mit mehreren starken Strebungen beschrieben. Die Anwendung der Strebetendenz-Theorie macht deutlich, warum der Akkord seit langem als Ausdruck des Schreckens gebraucht wird:
Beim verminderten Septakkord identifiziert sich der Hörer auf mehrfache und intensive Weise mit einem Willen gegen eine Veränderung. So kann sich eine Vorstellung ergeben, die an ein "Sich-mit-Händen-und-Füßen-Wehren" erinnert. Dieser Klang kann – wenn er laut gespielt wird und die Tonika ein Mollakkord ist – den Eindruck von Verzweiflung erzeugen. Franz Schubert nutzt diese Wirkung des Schreckens, indem er mit dem verminderten Akkord das Wort "Grabe" untermalt.
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Die Fortsetzung erscheint am Freitag, 19. April 2013.
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