Leipzig – Brahms war hier genauso wie Tschaikowski, Grieg, Strauss und Wagner. Natürlich auch Mendelssohn Bartholdy, schließlich trug er zwölf Jahre lang den Titel Gewandhauskapellmeister. Mozart gab im Mai 1789 im Leipziger Gewandhaus ein zweistündiges Konzert, dirigierte eigene Werke und trat als Pianist auf. Die Liste ließe sich fortsetzen. Das Gewandhaus gehörte schon früh zu den allerersten Musikadressen. Wer sich mit der Geschichte seines Orchesters befasst, taucht in europäische Musikgeschichte ein. 275 Jahre nachdem Leipziger Bürger es aus der Taufe hoben, wird am (heutigen) Sonntag ordentlich gefeiert – mit namhaften Gästen, einem neuen Chef und viel Musik.
"Das Gewandhausorchester ist heute eine globale Marke", sagt Orchesterdirektor Andreas Schulz. Der 56-Jährige leitet seit 1998 als Intendant die Geschicke des traditionsreichen Klangkörpers und ordnet ihn unter die "Top Ten" weltweit ein. Tatsächlich sind die Leipziger unter ihren letzten Kapellmeistern Riccardo Chailly und Herbert Blomstedt wieder zu einem global gefragten Spitzenorchester gereift, nachdem es der langjährige Chef Kurt Masur (1927-2015) bereits vor dem Fall der Mauer international platzieren konnte. 1974 reisten die Leipziger als erstes Orchester der DDR in die USA. Inzwischen ist man von Asien über Nord- und Südamerika bis hin nach Australien getourt.
In der DDR gehörte das Gewandhausorchester neben den Staatskapellen von Dresden und Berlin zu den Großen Drei im ostdeutschen Konzertbetrieb. Für Musiker war es etwas Besonderes, in einem dieser Orchester zu spielen. Tourneen in den Westen gehörten fast schon zum Alltag. "Die künstlerische Arbeit war schon immer von einem hohen Niveau geprägt, unabhängig von der politischen Situation", sagt der Erste Konzertmeister der Ersten Geigen, Frank-Michael Erben. Vor ein paar Jahren hat ihn eine Journalistin aus Bayern gefragt, ob er nach der Wende Mendelssohn Bartholdy nun anders spiele: "Ich wusste anfangs gar nicht, was sie von mir will", sagt der 52-Jährige.
"Denn der Qualitätsanspruch war vor 30 Jahren nicht anders als heute", betont Erben, der schon als Student das Vorspiel für die Konzertmeisterstelle gewann und sie seit 1987 innehat. Natürlich hätten sich seither manche Dinge geändert – durch Kapellmeister, aber auch durch Musiker, die aus anderen Schulen stammten und neue Einflüsse mitbrachten. Früher kam der Nachwuchs hauptsächlich aus der Musikhochschule in Leipzig. Inzwischen sind im Orchester 25 Nationen vertreten. Die Aufgabe bestehe nun darin, Musiker unterschiedlichster Herkunft in das Gewandhausorchester zu integrieren, sagt Erben. Schließlich gehe es darum, den eigenen Klang zu bewahren.
Andris Nelsons, seit wenigen Tagen 21. Gewandhauskapellmeister in Leipzig, macht es sichtlich Freude, über die Qualitäten seines neuen Orchesters zu sprechen. Bei der Frage nach dem speziellen Ton der Leipziger ist er um Attribute nicht verlegen. "Der Klang ist geprägt von einem Verständnis für Bach und andere. Er ist sehr flexibel, auf eine Art cremig, sehr empfindsam, samtig, transparent, aber tief. Da gibt es kein schwarz und weiß, alles ist sehr durchsichtig", sagt der 39 Jahre alte Lette, ein Star der Dirigentenzunft ohne Allüren. Mit diesen Qualitäten will Nelsons nicht nur das musikalische Erbe bewahren, sondern auch die Moderne bedienen.
Damit knüpft er an eine Tugend der Leipziger an. Viele Klassiker des heutigen Konzertbetriebes wurden einst im Gewandhaus uraufgeführt. Hier erblickte Beethovens "Tripelkonzert" das Licht der Musikwelt. Gleiches gilt für Mendelssohn Bartholdys "Schottische Sinfonie" und sein Violinkonzert, für mehrere Sinfonien von Schumann, Schuberts große C-Dur-Sinfonie, das Violinkonzert von Brahms, Bruckners 7. Sinfonie oder Wagners "Meistersinger"-Vorspiel. Für sein Jubiläum hat das Orchester heutige Zeitgenossen mit Werken beauftragt. In der laufenden Saison wird so unter anderem Neues von Philip Glass, Jörg Widmann, Thomas Larcher und Steffen Schleiermacher zu hören sein.
Bratscher Anton Jivaev hat noch aus einem anderen Grund von einem Job in Leipzig geträumt. Es sei eine einmalige Konstellation, dass man hier als Musiker Sinfoniekonzerte im Gewandhaus, Musiktheater in der Oper und Bach-Kantaten in der Thomaskirche spielen könne, sagt der 41-Jährige. Hinzu komme die Kammermusik: "Das gibt praktisch eine vierfache Zufriedenheit." Noch ein weiterer Punkt reizt Musiker. Wer hier eine Brahms-Sinfonie einstudiert, kann auf historisches Notenmaterial mit Anmerkungen zurückgreifen – so wie es Kapellmeister Arthur Nikisch schon vor 100 Jahren nutzte. Dabei ist das Gewandhaus im digitalen Zeitalter alles andere als ein musealer Betrieb.
(Von Jörg Schurig, dpa/MH)
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