Berlin (dpa) – Komponieren sei nun mal eine einsame Angelegenheit, sagt Aribert Reimann, Corona habe seinen Alltag deswegen nicht all zu stark gestört. Man sei eben als Ton-Künstler "der Welt abhanden gekommen", zitiert Reimann aus einem Lied Gustav Mahlers. Doch auch bei Reimann hat die Pandemie Spuren hinterlassen.
Sechs Premieren und Wiederaufführungen seiner Opern wurden verschoben, auch etliche Konzerte mit seinen Instrumental- und Gesangswerken. Reimann, der am (heutigen) Donnerstag 85 Jahre alt wird, lässt sich aber nicht entmutigen. Gerade arbeitet er an einer neuen Oper, die in zwei Jahren fertig sein soll, dann steht ein weiterer Auftrag an.
Reimanns Werke werden weltweit gespielt, der Berliner gilt als einer der wichtigsten Vertreter der zeitgenössischen Musik. Mehr als siebzig Werke habe er geschrieben – Liederzyklen, Instrumentalstücke, Orchesterwerke und bisher neun Opern. Seinen wohl größten Erfolg hatte er mit der 1978 in München uraufgeführten Oper "Lear", die er dem Bariton Dietrich Fischer-Dieskau auf den Leib geschrieben hatte.
Weltweit entstanden davon dutzende Neuinszenierungen.
Er könne eben nicht anders als zu komponieren, "es ist mein Lebenselixier", sagt Reimann im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Sein erstes Stück schrieb er mit zehn Jahren. Geprägt hatte ihn ein Auftritt im Berlin Hebbel-Theater im Chor bei Bertolt Brechts und Kurt Weills Oper "Die Jasager". Nach dem Abend war ihm klar, dass er entweder als Sänger oder als Komponist der Bühnenwelt verbunden bleiben wollte.
Musik gehörte bei den Reimanns zum Alltag wie Essen und Trinken. Bach, Beethoven, Schubert – sein Vater baute nach dem Krieg als Direktor den Staats- und Domchor Berlin auf, seine Mutter hatte eine Professur für Sologesang.
Nach dem Abitur 1955 ging Reimann als Korrepetitor an die Städtische Oper (heute Deutsche Oper) in Berlin und studierte zugleich an der Berliner Musikhochschule Komposition bei Boris Blacher und Ernst Pepping. Sein Ballett "Stoffreste" nach einem Libretto von Günter Grass wurde 1959 in Essen uraufgeführt. Aus Musiktheater und Lied entwickelte sich Reimanns Werk.
Die Liebe zum Gesang prägte fortan Reimanns Schaffen. Mit zwanzig begleitete er Fischer-Dieskau am Flügel, trat als Liedbegleiter auch mit der Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender auf. Auch sein Ziel, bis zum 30. Lebensjahr seine erste Oper zu veröffentlichen, ging in Erfüllung: "Ein Traumspiel" nach dem Theaterstück von August Strindberg wurde 1965 Reimanns erste abendfüllende Oper.
Neben Liedkompositionen auf Texte von Paul Celan, James Joyce oder Joseph von Eichendorff schrieb Reimann Kammermusikstücke, Solokonzerte und Orchesterwerke wie die Miniaturen für Streichquartett oder die beiden Klavierkonzerte.
Bis zu seiner Pensionierung blieb er aber – zunächst in Hamburg, dann in Berlin – Professor für das zeitgenössische Lied. Sängerinnen wie Claudia Barainsky, Christine Schäfer oder die 2015 verstorbene Stella Doufexis kommen aus seinen Klassen.
Fortan widmete er sich vollständig dem Komponieren, "es ist für mich das ganz und gar Notwendige". 2010 folgte mit der Vertonung des Dramas "Medea" nach dem gleichnamigen Schauspiel von Franz Grillparzer der weibliche Gegenentwurf zu Shakespeares Königsdrama "Lear": "Eine Frau, die als Emigrantin nicht anerkannt wird" – Reimann sucht in seinen Stoffen immer wieder den aktuellen Zeitbezug.
Das gilt etwa für den Opernstoff für "Das Schloss" nach Franz Kafka, der sich um das Schicksal eines Außenseiters dreht. "L’invisible" nach Maurice Maeterlinck kreist um das mysteriöse Verschwinden von Menschen in einer von Unterdrückung geprägten Welt, "Melusine" um die Gefährdung der Natur. "Ich möchte die Menschen aufrütteln", sagt Reimann. Dann sei es auch egal, ob die Vorlagen für die Operntexte aus der Gegenwart stammen oder mehrere Jahrhunderte oder gar Jahrtausende alt sind.
Ihm selbst ist die Oper "Troades" nach einem Drama von Euripides ein besonderes Anliegen, die 1986 die Münchner Opernfestspiele eröffnete. Im Krieg war er mit Bombenangriffen aufgewachsen, hatte als Achtjähriger so seinen Bruder verloren und 1945 die "Nacht von Potsdam", den Luftangriff auf die Stadt, erlebt. "Mein größter Wunsch war immer, eine Oper gegen den Krieg zu schreiben."
Musikalisch lässt sich Reimann schwer in eine Schublade packen. Er habe nie einer Komponistenschule angehören wollen, auch wenn, wie er sagt, mehrere seiner Freunde Komponisten seien. Er sei als Komponist eher ein Einzelgänger. Das habe ihm schon früh sein Lehrer Boris Blacher mit auf dem Weg gegeben: "Halten Sie sich an die Konzertveranstalter und die Opernhäuser" – und nicht an die Festivals für moderne Musik.
Ob er sich auch eine Corona-Oper vorstellen könne? Reimann reagiert skeptisch: "Jetzt ist es viel zu früh, die Folgen abzuschätzen."
(Von Esteban Engel, dpa)
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(dpa/MH)
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