Die Zukunft als Hölle eines neuen Mittelalters

12. Juni 2017 - 12:10 Uhr

Frankfurt am Main (MH) – Es geht brutal zur Sache beim Premieren-Doppelabend an der Frankfurter Oper. Schon in Debussys Kantante "La damoiselle élue" verdüstern bühnenbreite Wolkenmassen das Paradies, bevor Regisseur Àlex Ollé in Arthur Honeggers Scheiterhaufen-Oratorium "Jeanne d’Arc bûcher" alle Gewalten der Unterwelt auf die Bühne strömen lässt. Immer mittendrin: Die klare Kunst von Schauspielerin Johanna Wokalek als Jungfrau von Orleans. Ohnmächtig zitternd in ihrer letzten Lebensstunde.

"Jeanne d'Arc au bûcher"

"Jeanne d’Arc au bûcher"

Golden schimmern in dieser Welt nur noch die Rettungsplanen, in die sich die himmlischen Damen aus den Visionen der Jeanne d’Arc hüllen. Nicht nur der Scheiterhaufen der französischen Nationalheiligen – in Wahrheit steht bald die ganze Welt in Flammen, glaubt Regisseur Ollé, katalanisches Gründungsmitglied der Performance-Kollektivs "La Fura dels Baus": Mit schrecklicher Liebe zum Detail zeigt er unser gesellschaftspolitisches Morgen als Todessumpf aus geldgeilen Dealern, Sado-Maso-Dominas und einer stumpfen Volksrotte, die zu halbnackten Tieren mutiert ist. Oben aufgeknöpftes Hemd und Schlips, untenrum Plastikpenisse und offen zur Schau getragene weibliche Scham. So kraftvoll diese Sicht viele der wuchtigen Chornummern von Honeggers Musik bebildern, so schnell entsteht beim Betrachter allerdings ein (gewollter?) Ekelüberdruss. Irgendwann mag man sie nicht mehr sehen, diese baumelnden Gemächte des Männerchores, diese gesichtslosen Königinnen, den glänzenden Bauch des schweinischen Richters und all seiner tierischen Kollegen. Den ganzen brodelnden Hexenkessel, in dem halbnackte Frauen mit Seilen an den Füßen hochgezogen und mit Knüppeln zu Brei geschlagen werden. Anders gesagt: Nicht nur Johanna Wokalek als Johanna von Orleans muss Todesängste erdulden, auch die düsteren Folterszenen dürften für manchen Zuschauer belastend sein.

Dabei ist das Oratorium Honeggers, geschrieben und uraufgeführt kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, auch voll grotesker Visionen, absurder Komik und schrillem Humor. Davon allerdings lassen die spanischen Performance-Magier keinen Funken übrig. Gute Gründe dafür gibt es. Nicht nur die Hinrichtungssituation drückt dem Werk seinen Stempel auf, bereits zur Entstehungszeit, als Librettist Paul Claudel und der Schweizer Komponist ihr eigenwilliges Oeuvre 1938 uraufführten, verdüsterte sich die Welt. Die staatlichen Gerichte als Schweine, Schafe und Esel darzustellen, war ein offener Affront gegen die nationalsozialistischen Besatzer. Der Mut der politisch neutralen Schweiz zur szenischen Erstaufführung 1942 nötigt nachträglich hohen Respekt ab.

Die Frankfurter Idee, dem klangmächtigen Inferno von Arthur Honegger Debussys Kantate "La damoiselle élue" von 1893 voranzustellen, geht szenisch sinnig auf. Während in Debussys impressionistischen Himmelsszenen anfangs eine Auserwählte im Paradies auf die Ankunft ihres Liebsten und damit eine sinnliche Wiedervereinigung hofft, wird am Ende auch die Seele Jeanne d’Arcs im Himmel Frieden finden.

Spektakuläre Wolkengebirge errichtet Alfons Flores dazu auf der gigantischen Frankfurter Opernbühne. In einem gläsernen Himmelspalast, dessen Stahlseile bisweilen wie parzellierte Gefängniszellen schimmern, versammeln sich die berühmten Frauen der christlichen Welt: die Jungfrau Maria (Elizabeth Sutphen), die heilige Margarethe (Elizabeth Reiter) und die heilige Katharina (Katharina Magiera). Die Unterseite des Palastes bildet mit dem senkrechten Metallpfahl, an dem Jeanne d’Arc in den Folterkeller heruntergefahren wird, ein großes Bühnenkreuz. Honeggers Oratorium spielt anschließend im unteren Teil der Bühne, in den grausamen Niederungen des Erdeninfernos.

Musikalisch überragend singen die drei rhythmisch vielfach geforderten Chöre, von Tilman Michael und Markus Ehmann bestens auf ihre tragende Rolle vorbereitet. Johanna Wokalek als französisch sprechende Jeanne d’Arc leidet glaubhaft an ihrer existentiellen Bedrohung. Eindrücklich auch Schauspieler Sébastien Dutrieux als Bruder Dominique, der ihr aus dem Buch ihres Lebens noch einmal die wichtigsten Stationen vorliest. Ein Großteil der übrigen Singrollen ist mit Debütanten des Frankfurter Ensembles besetzt. Die musikalische Leitung liegt in den kundigen Händen von Marc Soustrot, der vom seltenen Instrument, dem jaulenden Ondes Martenot, bis hin zum unschuldigsten französischen Volkslied im Verein mit dem Frankfurter Museumsorchester eine große Leistung abliefert. Trotz der provokanten Nacktszenen gab es am Ende großen Jubel für alle Beteiligten, ganz besonders für Schauspielerin Johanna Wokalek.

(Von Bettina Boyens)

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