"Parsifal" in Bayreuth: Eins zu Null für die Realität

25. Juli 2023 - 23:14 Uhr

Bayreuth (MH) – Zum Promiauflauf Gewittersturm mit Monsungüssen, im Vorfeld viele Diskussionen über die Festspielzukunft nach Corona und dann eine glänzende Vorstellung: Jay Scheibs Neuinszenierung des Parsifal zum Auftakt der Bayreuther Festspiele honorierte das Premierenpublikum am Dienstag mit Ovationen und Buhs für das Regieteam. Nur teilweise gerechtfertigt, denn der Theaterkunst-Professor vom Massachusetts Insitute of Technology liefert eine nicht spektakuläre, aber handwerklich solide Arbeit ab, die meistens kurzweilig ist.

"Parsifal"

"Parsifal"

Schlagzeilen machten vor der Premiere die (allerdings nur) 330 Augmented-Reality-Brillen – unverständlich, wieso der Einsatz dieser Technik 2023 zu Diskussionen führt. Bei der Premiere werden Chancen und an diesem Abend vor allem Grenzen der Technik deutlich. Nur in wenigen Augenblicken wird die Realität im Sinn des Werks "erweitert", meistens sind Tempo und Bildsprache des Virtuellen nicht stimmig zu Tempo und Bildsprache der Bühne. Blutstropfen durch den nicht realen Raum schweben zu lassen, wãhrend Amfortas seine Wunde beklagt, großartige weiße Lilienstängel und überdimensionale Insekten, die bei den Worten "Durch Mitleid wissend" auf den Zuhörer zubrausen: Der Erkenntnisgewinn ist marginal, der Unterhaltungseffekt auch – und die neue Dimension als ironische Ebene einzuziehen, dazu fehlt in der Produktion die Konsequenz. So toppt die echte Bühne ganz klar das Virtuelle. Eins zu Null für die Realität.

Pablo Heras-Casado nutzt bei seinem Pult-Debüt auf dem Grünen Hügel die akustischen Verhältnisse noch nicht optimal. Das Festspielorchester spielt gediegen, teilweise wirkt der Klang aber flach, und viele Tempi laufen ohne Groove. Glitzernde Klänge und die drahtige Transparenz, die die besten Wagnerdirigenten liefern, bleibt er bei der Premiere schuldig. Ärgerlicherweise versinken auch Schlüsselszenen musikalisch in gedehnter Seichtigkeit.

Das umbesetzte Sängerensemble funktioniert auf hohem Niveau. Andreas Schager, eingesprungen für Joseph Calleja, ist eine Idealbesetzung, in der Titelpartie erfahren, von großer und feinsinniger Gestaltungskraft. Derek Walton nimmt man den Amfortas musikalisch, aber nicht darstellerisch ab. Georg Zeppenfeld, Bayreuther Urgestein, ist fast für Gurnemanz abonniert und eine souveräne Größe. Elīna Garančas Debüt bei den Bayreuther Festspielen wurde interessiert erwartet, die Kundry zeichnet sie differenziert und stimmlich mit großer Präsenz. Klingsors Zaubergarten-Szene geriet mit Andreas Schager zu den inspirierendsten des Abends. Tobias Kehrer als Titurel und Jordan Shanahan als Klingsor überzeugen. Fazit: Der neue Parsifal in Bayreuth lohnt den Besuch auf jeden Fall, aber eine völlig neue Dimension transportiert die Inszenierung trotz AR-Brilleneinsatz nicht.

© MUSIK HEUTE. Alle Rechte vorbehalten – Informationen zum Copyright

(mk/wa)

Mehr zu diesem Thema:

Bayreuther Festspiele. Prominente Gäste bei Eröffnung
(20.07.2023 – 10:27 Uhr)

Weitere Artikel zu den Bayreuther Festspielen

Link:

http://www.bayreuther-festspiele.de

Mehr zu diesen Schlagwörtern: , , , , , , ,
Print Friendly